Es ist ja nicht so, dass das mein erster auf mich zugeschnittener Anzug ist. Vor einigen Jahren war ich in Köln bei einem Freund zu Gast auf einer Custom-Tailor-Party. Zwei indischstämmige Schneider aus Bangkok waren auf Europatournee und boten ihre maßgeschneiderten Dienste bei Privatleuten an, die ihr Wohnzimmer samt Minisalamis und ein paar Flaschen Bier als Verkaufsraum zur Verfügung stellten. Textile Tupperware.
Nach zwei Flaschen Kölsch stand mir die Laune nach einem sommerlich weißen Anzug, falls ich mir mal eine eigene Yacht zulegen würde. Das Ganze für 200 Euro. Na ja. Das Ende vom Lied: Anderthalb Jahre später habe ich dem Schneider meinen maßgeschneiderten Anzug in Bangkok persönlich auf den Tresen geknallt. Mein lässiger Sommeranzug war derartig leicht und weiß, dass man durch ihn hindurch Zeitung lesen konnte. Unbrauchbar.
Nun mein zweiter Versuch in einer anderen Liga. Bei Ermenegildo Zegna, der Edelschneiderei aus Italien, in ihrer Berliner Dependance. Anzüge ab 2100 Euro.
Was deutsche, englische und italienische Schneidertradition unterscheidet
Ein deutscher Schneider zeichnet den errechneten Schnitt mit Winkeln und Linealen auf den Stoff, die erste Anprobe findet ohne Ärmel statt. Ganz generell wird die Schnittaufstellung eher mathematisch angegangen, als intuitiv: So wird die Taschenlage beispielsweise errechnet. Andernorts platziert man die Taschen nach Gefühl.
Anzugjacke und Sakko werden relativ lang geschnitten, das Armloch eher groß und tief, der Ärmel selbst weiter und geräumig – immer im Vergleich zu Italien und Großbritannien.
Quelle: Bernhard Roetzel „Der Gentleman nach Maß – Maßgeschneiderte Herrenkleidung“, ISBN: 9783848007684, ullmann publishing GmbH
Ein Londoner Schneider arbeitet mit Schablonen in verschiedenen Größen, die er entsprechend den Maßen des Kunden auf dem Stoff platziert. Die erste Anprobe erfolgt mit Ärmeln.
Als typisch englische Linie gelten die hohe Taille, die ausgestellten Rockschöße und die klare, jedoch leicht fallende Schulterlinie. Das Armloch sitzt relativ hoch, der Ärmel liegt dicht am Arm an und verjüngt sich zum Handgelenk hin. Die Hosen sind im Gesäß voller geschnitten, die Fußweite ist geringer als in Deutschland bemessen und die Länge sparsamer.
Im Norden Italiens ist die Schneiderei sehr englisch, das Sakko weist in der Regel zwei Seitenschlitze auf, die Schulter wird klar akzentuiert.
Die Hosen weisen in der Regel Bundfalten und Umschläge auf. Die typisch süditalienische Linie zeichnet sich durch schmale Taille und Hüfte aus, der Brustabnäher wird bis zum unteren Saum geführt. Das Armloch ist klein, die Crochetnaht liegt extrem hoch und steigt steil an.
Zegna bietet eine seltsame Kategorie in der Welt der Anzüge an. Sie nennen es „Su Misura“-Service, nach Maß. Und füllen damit raffiniert eine Lücke im System von:
- Anzug von der Stange, bei dem man meist höchstens noch die Länge von Armen und Beinen anpassen kann, und
- maßgeschneidertem Anzug, der wie ein Kunstwerk von null an um den Körper des Kunden drapiert wird.
Die wichtigsten Fachausdrücke rund um den Anzugstoff
Die Ausrüstung oder Veredelung ist die letzte Stufe des Herstellungsprozesses eines Gewebes. Sie entscheidet über Optik und Griff des Stoffs, kann ihm aber auch spezielle Eigenschaften verleihen wie etwa Mottenresistenz.
Quelle: Bernhard Roetzel „Der Gentleman nach Maß – Maßgeschneiderte Herrenkleidung“, ISBN: 9783848007684, ullmann publishing GmbH
Die Bindung ist der Rhythmus, in dem Kette und Schuss miteinander verkreuzt werden. Es gibt drei Grundbindungen, von denen sich alle anderen Webarten ableiten lassen: Leinwandbindung, Körperbindung und Atlasbindung.
Ein Garn entsteht, wenn Faserstränge miteinander verdreht werden. Je nachdem, ob ein, zwei oder vier Faserstränge beteiligt sind, nennt man das Garn einfaches, zweifaches oder vierfaches. Außerdem wird nach rechter oder linker Drehrichtung unterschieden.
Kammgarn bezeichnet ein Garn, das aus besonders feinen und langen Fasern gesponnen wird. Die kürzeren Fasern werden vor dem Spinnen ausgekämmt. Auch die aus Kammgarn gewobenen Stoffe heißen Kammgarn, so spricht man zum Beispiel von Kammgarnflanell.
Ein Gewebe entsteht durch das Verkreuzen von Längs- und Querfäden. Die straff gespannten Längsfäden heißen Kette, die Querfäden Schuss. Der Querfaden wird in einem festgelegten Rhythmus über oder unter der Kette durchgeschossen.
Maßeinheit für die Stärke von Fasern und Garn. In England ist diese Maßeinheit auch unter der Bezeichnung Mikron oder micron gebräuchlich. Ein Mikrometer oder Mikrometer entspricht 1/1000.000 Meter, ist also der millionste Teil eines Meters. Feinste Kaschmirfasern messen 14 bis 16 Mikrometer im Durchmesser, Merinowolle bis zu 24,5 Mikrometer im Durchmesser.
Reine Schurwolle ist die vom lebenden Schaf geschorene Wolle, die erstmals zu einem Gewebe verarbeitet wird. Im Gegensatz dazu gewinnt man die weniger hochwertige reine Wolle aus Produktionsabfällen und Lumpen.
Streichgarn wird aus kurzen bis mittellangen Fasern gesponnen. Da diese Fasern nicht vollständig parallel und glatt miteinander verdreht werden können, wirkt dieses Garn haariger und voller. Stoffe aus Streichgarn sind Tweed, Cheviot oder Saxony.
Ein Gewebe aus Fasern von 18,0 bis 18,9 Mikrometern Durchmesser. „Super 100“ sagt also nichts über das Stoffgewicht aus. Die ersten Super-100-Stoffe kamen 1963 auf den Markt.
Zwirn entsteht durch das Verdrehen von mehreren Garnen. Je nachdem, ob zwei, vier oder acht Fäden versponnen werden, heißt der Zwirn zwei-, vier- oder achtdrähtig.
Zegna bietet eine Reihe von Anzügen von der Stange an, die sich im Schnitt unterscheiden. Einige sind sportlich-tailliert, andere eher gemütlich weit, die Außentaschen variieren, das Revers und die Schulterformen auch. Und dieser standardisierte Prototyp wird dann in Italien nach den angepassten Maßen des Kunden vom Ballen zugeschnitten. So muss nicht ein komplett neuer Anzug entworfen werden. Das macht es billiger. Weil das Exemplar des Kunden aber eben noch nicht existiert, können all seine Wünsche zu Passform, Stoff, Innenfutter und Knöpfen berücksichtigt werden.
Das ist die Idee von Zegna.
Und jetzt ich.
Wie läuft das mit dem Stöffchen, für das fast passgenau Maß genommen wird?
Welche Faserarten bei Anzügen zum Einsatz kommen
Wolle und Anzug waren jahrhundertelang nahezu Synonyme und tatsächlich gibt es bis heute kein anderes Material für Anzüge, Hosen oder Mäntel, das es mit der Wolle an Formbeständigkeit, Elastizität und Dauerhaftigkeit aufnehmen kann.
Quelle: Bernhard Roetzel „Der Gentleman nach Maß – Maßgeschneiderte Herrenkleidung“, ISBN: 9783848007684, ullmann publishing GmbH
Kaschmir gilt als der Luxusstoff schlechthin. Die besten Qualitäten stammen aus der Mongolei. Anders als Schafwolle wird das weiche Unterhaar der Kaschmirziege nicht geschoren, sondern vorsichtig ausgekämmt.
Vikunja ist das Gewebe aus dem Haar einer südamerikanischen Kamelart. Die Anzahl der Tiere ist gering, der Rohstoff also sehr rar und zudem äußerst aufwendig in der Gewinnung. Der Preis für Vikunja erreicht deshalb sagenhafte Höhen.
Baumwolle ist einerseits besonders im Sommer sehr angenehm zu tragen, doch andererseits verliert sie schnell ihre Form, knautscht und knittert. Wer sich daran nicht stört, ist mit einem Anzug aus der pflanzlichen Faser bestens bedient.
Ein geringer Anteil synthetischen Garns kann bei leichten Wollstoffen die Formbeständigkeit erhöhen. Wirklich notwendig ist dies allerdings nur in feuchtheißen Klimazonen. Andernorts werden Mischgewebe selten verwendet.
Synthetik ist unter den Anhängern handgemachter Kleidung mehr als nur verpönt, doch wie bei den Wollstoffen trägt eine Beimischung synthetischer Faser auch bei den Baumwollqualitäten dazu bei, den Anzug bei feuchter Hitze in Form zu halten.
Leinen besteht aus den Fasern der Flachspflanze. Bekanntermaßen knittert es. Dies lässt bei den besseren Qualitäten jedoch mit der Zeit nach. Wenn die Falten sich dann endgültig ausgehangen haben, entsteht ein unverwechselbarer Look.
Woll- und Seidengarn kann mit ganz unterschiedlichen Ergebnissen gemischt werden. Mal besteht der Seidenanteil nur in einem Zierfaden, wie etwa in einem Karogitter, in anderen Fällen bestimmt er den Charakter des gesamten Tuchs.
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg fand die Seide ihren Weg zurück in die Herrenschneiderei. Zunächst wurde sie bei der Abendgarderobe eingesetzt, später jedoch auch als Material für Anzüge und Sportjacken.
Da ich in Kleidungsfragen nicht der Entschlussfreudigste bin, habe ich mich auf mehrere Stunden Wankelmut eingestellt. Und die brauche ich auch. Jeder Experte wird mir recht geben: Stoff ist eben nicht gleich Stoff. Und da muss sich der Laie erst einmal reinfühlen. Immerhin stehen 700 Stoffe zur Auswahl. Zegna stellt Wolle mit 11,5 bis 17 Mikrometer her. Zum Vergleich: Ein menschliches Haar misst 50 bis 60 Mikrometer, der feinste schottische Tweed 35 Mikrometer.
Angestrengt versuche ich zu erfühlen, dass der eine Stoff sehr robust, der andere eher edel ist. Der feine Cord hält an den Ellenbogen nicht ewig, lerne ich. Ein anderer sitzt auch nach dem Autofahren noch knitterfrei. Der eine sei eher etwas für einen Empfang im Herbst, der andere eher etwas für die Arbeit am Schreibtisch. Oder vielleicht verwechsele ich das auch. Aber Spaß macht es mir.
Und dem Schneider und dem Stilberater neben mir offenbar auch. Zu keiner Sekunde gibt mir einer der beiden Experten den Eindruck, von meinem laienhaften Gefummel genervt zu sein. Vielleicht ist das das Erfolgsgeheimnis des italienischen Traditionsunternehmens. Es wurde 1910 von Ermenegildo Zegna in dessen Heimatstadt Trivero gegründet. Bis heute befindet sich das Modelabel in Familienbesitz.
Laut offiziellen Angaben kommt die Schaf-, Kaschmir- und Mohairwolle noch heute im unbehandelten Zustand nach Norditalien. Die Wollspinnerei und -weberei ist 700 Meter über dem Meeresspiegel in der Bergregion um die Stadt Biella gelegen. Das Bergwasser sei nötig, um die importierte Wolle zu reinigen. Ja ja, das gute Felsquellwasser.
Was, wenn sich jemand einen pinken Cordanzug mit Bommeln wünscht?
Zegna hat fünf Shops in Deutschland. Der auf dem Berliner Kurfürstendamm ist gerade frisch renoviert. 20 bis 40 Kunden kommen pro Tag hier rein. Einige wüssten genau, was sie wollten. Andere bräuchten intensive Beratung.
Knapp zwei Stunden schlüpfe ich jetzt schon in Jacken, verschwitze zu meinem Verdruss dabei das 240 Euro teure Probehemd, das der Schneider mir gereicht hatte. Aber es hat sein Gutes: So vergesse ich nicht zu erwähnen, dass mein Modell später unter den Achseln etwas weniger anschmiegsam sein sollte. Aber wahrscheinlich hat sich der Schneider das längst auch schon gedacht.
Dann die Stoffe: Der Schneider legt mir den blaugrauen „Trofeo“ mit leichtem Grätenmuster ans Herz – den „Promotion-Anzug“ der Saison. Aber Blaugrau ist nicht meine Farbe. Was die Mitarbeiter wohl sagen, wenn ein Kunde sich beratungsresistent zeigt und sich mit Waschbärbauch einen taillierten pinken Cordanzug mit Bommeln wünscht, will ich wissen. Die Zegna-Devise: Wir tun, was uns möglich ist. Wer wären wir, dass wir dem Kunden vorschreiben, was ihm gefällt?
Keinem der beiden ist auch nur eine überhebliche Silbe zu entlocken. Die innere Haltung scheint wasserdicht zu sein. „Gut“, sage ich gleich weniger eingeschüchtert, „ich finde nämlich, mir stehen wegen meiner braunen Augen eher bräunliche Stoffe.“
Fast ist es mir peinlich, dass sich zwei Angestellte nun schon seit so langer Zeit allein um mich kümmern. Aber da fällt mir zum Glück ein: Die Schneider in Italien brauchen rund vier Wochen, bis ein Anzug fertig ist. Und Achtung, so bunt ist Europa: Die Italiener machen im Sommer Urlaub. Die Zegna-Schneiderei fährt dann auf Sparflamme. Die Fertigung dauert dann Wochen länger. Ich wecke also den Italiener in mir und lasse mir Zeit beim Aussuchen. Espresso und San Pellegrino gehen aufs Haus.
Die Wahl fällt endlich auf einen braun-grauen Stoff. Ich finde ihn sehr edel. Der Schneider informiert mich durch die Blume, dass ich mich gerade in einen der preiswertesten Stoffe aus der „Super Cento“-Reihe verliebt habe. Ja nun, preiswert heißt hier ja nicht Schrott. Nach der Auswahl aus der Linie „Casual Luxury“ und des Stoffs kommt das Anpassen.
Darauf sollten Sie beim Anzug achten
Hände weg von Synthetik: Polyester, Polyacryl und Co. bringen den Träger nur ins Schwitzen. „Gentleman“-Autor Bernhard Roetzel rät zu 100 Prozent Naturfasern, im Idealfall Schurwolle. Diese ist im Gegensatz zu einfacher Wolle frisch geschoren und zeichnet sich daher durch besonders feine Fasern aus. Stoffe aus Schurwolle sind elastisch, glatt und fallen besser. In vielen Fällen können Anzugkäufer die Stoffqualität auch dadurch ausmachen, indem sie einmal zupacken und schauen, wie stark der Stoff knittert. Das ist aber nicht immer ein Qualitätshinweis: Leinen knittert beispielsweise immer.
Billiganzüge haben meist ein synthetisches Futter aus Kunstfasern. Bessere Anzüge sind mit Viskose gefüttert. Das ist zwar auch synthetisch, wird aber aus Holz hergestellt und weist somit gleiche Eigenschaften auf, wie Baumwolle. Im besten Fall ist das Futter jedoch aus Seide.
Je billiger der Anzug, desto weniger Stiche weisen die Nähte auf. Wichtig ist vor allem, dass sie ordentlich und gerade verlaufen. Wer dafür keinen Blick hat, kann einfach den ausgewählten Anzug mit einem teuren High-Ende-Modell vergleichen. Wichtig ist hierbei auch die Hose auf links zu drehen und die inneren Nähte zu begutachten.
Billiganzüge verzichten gerne auf einen ordentlich verarbeiteten Saum. Dadurch fransen die Stoffränder schnell aus.
An Knöpfen lässt sich die Qualität eines Anzugs kaum ausmachen. Diese sind in so gut wie allen Preisklassen aus Kunststoff. Lediglich am oberen Ende haben Anzüge Knöpfe aus Büffelhorn, Steinnuss oder Perlmutt. „Das sind aber eher traditionelle Qualitätsmerkmale“, sagt Stilexperte Bernhard Roetzel.
Ich bin erstaunt, wie flott das geht. Der Schneider hält nur ein einziges Mal das Zentimetermaß an meinen Körper, um meinen Kragen zu messen. Ansonsten steckt er Sakko und Hose mit Nadeln ab.
Während er steckt und zupft, ruft der andere fröhlich: „Möchten Sie einen Ferrari?“ „Wie meinen Sie das: einen Ferrari?“ „Na, einen Ferrari!“ Für eine Sekunde kann der Mann seine Verwunderung über meine Ahnungslosigkeit dann doch nicht verbergen. Er verschwindet im Lager und kommt mit einer Flasche Ferrari Spumante samt Sektglas zurück. „Ach soooo.“ Wollen die mich entschlussfreudiger machen?
Und so trinke ich oben Italo-Perlwein, unten zuppelt der Schneider an meinen Hosenbeinen. Ach, ich mag die italienische Lebensweise.
Der Ferrari beschleunigt tatsächlich.
Welche Knöpfe? „Die braun-schwarzen.“ Fertig.
Welches Innenfutter? „Sieht man das später irgendwo?“ Nein. Ich nehme Petrol.
Einen Monat später komme ich zur zweiten Anprobe. Ich werde erwartet; der fast fertige Anzug liegt bereits auf dem Tresen. Noch fehlen die Knöpfe. Ich stelle mich ein letztes Mal vor den Spiegel. Das bin ich in meinem neuen Anzug. Er passt perfekt. Ich bin zufrieden. Diesmal auch ohne Ferrari.
-------------------------
Den Anzug hat Zegna für unseren Test kostenlos zur Verfügung gestellt.