Essay Wir haben genug

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Auf dem Weg zu einer genügsamen Politik

Wachstumsambitionen der Wirtschaft treffen auf den zunehmenden Widerstand der umweltbewegten Bevölkerung. Gefragt ist ein Ausgleich von Ökonomie und Ökologie.
von Ferdinand Knauß

Ein genügsamer Staat wäre ein liberaler Staat. Einer, der eben nicht immer mehr Wohltaten versprechen zu müssen glaubt, für die er den Unternehmen wiederum immer mehr Steuern abknüpfen muss, wodurch er – gemeinsam mit der Finanzwirtschaft - zum größten Treiber des Wachstumszwanges und der Unersättlichkeit wird. Eine genügsame Politik wäre auch eine im wahrsten Sinne des Wortes konservative, die den Bürgern Freiraum bewahrt zur Realisierung eines „guten Lebens“.

Übermäßiges weiteres Wachstum bedeutet nicht unbedingt mehr, sondern möglicherweise weniger Freiheit für die Bürger, wenn es die endlichen Ressourcen der Natur und die der Menschen für ein „gutes Leben“ gefährdet: Diese Erkenntnis bedeutet für die meisten Ökonomen und die etablierte Politik ein Sakrileg. Deutlich wurde das in der Enquete-Kommission des letzten Bundestages „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“. In ihr blockten die Vertreter der Parteien, vor allem die von CDU und FDP,  alle Gedanken der eingeladenen Wissenschaftler über Alternativen zum herkömmlichen Wachstumsziel ab. Die Botschaft war: „Ihr sollt das Dogma nicht in Frage stellen!“

Die Notwendigkeit der Abkehr vom „mehr“ ist noch ein akademisches Thema. Aber die historische Erfahrung zeigt, dass die Denker dem Rest der Gesellschaft und der Politik meist voranschreiten. Was sie heute schreiben, wird morgen Politik. Die Vordenker des „genug“ sind noch eine intellektuelle Avantgarde. Aber sie sind keine Außenseiter vom Rande der Gesellschaft. Es sind längst nicht mehr nur die Helden einer linken oder ökologischen Subkultur, sondern Wissenschaftler, die aus der Mitte der Gesellschaft kommen, wie das frühere CDU-Mitglied Meinhard Miegel mit dem „Denkwerk Zukunft“ und der Kulturwissenschaftler Harald Welzer mit der „Stiftung Futurzwei“. Hinter ihnen stehen keine weltfremden Spinner, sondern gestandene Mäzene aus der Wirtschaft wie der Gründer der DIS-AG, Dieter Paulmann.

Genügsamkeit steht nicht auf der politischen Tagesordnung. Aber das könnte sich bald ändern. Die Schuldenkrise ist das Waterloo des Bündnisses zwischen Sozialstaat und Finanzwirtschaft. Beide sind geschlagen mit derselben Hybris: Sie blasen besinnungslos zur Attacke, während es längst Zeit wäre, zur Verteidigung des Erreichten überzugehen. Beide meinen, aus dem Schlamassel, in das sie durch maßlose Expansion geraten sind, herauszukommen, indem sie noch mehr expandieren - durch neue Schulden, durch „gekaufte Zeit“ (Wolfgang Streeck). Indem sie alles auf ein hypothetisches Wachstum setzen, das die kommenden Generationen der alternden Volkswirtschaften Europas erwirtschaften sollen. Dabei sind schon jetzt die Kräfte der Menschen und die Belastungsfähigkeit der Natur ganz offensichtlich überfordert.  

Das Umschwenken vom Wachstum um jeden Preis auf eine Politik des „genug“ ist keine leichte Aufgabe. Kein Wunder, dass sich derzeit niemand in der Politik darum reißt: Nach Clausewitz ist der Übergang von der Offensive zur Defensive, also zum Bewahren des Erreichten oder gar zum kontrollierten Rückzug auf haltbare Stellungen die schwierigste Aufgabe für Heerführer. Wahrscheinlich gilt das auch für Politik und Wirtschaft. Der Übergang zu einer Gesellschaft der Genügsamkeit und einer nicht mehr wachsen müssenden Wirtschaft ist viel schwieriger zu organisieren und erfordert sehr viel mehr politischen Mut und Weitblick als die blinde Flucht nach vorne der aktuellen Regierungen in Deutschland und den anderen entwickelten Volkswirtschaften. Aber langfristig bleibt uns gar nichts anderes übrig.

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