Exklusive Studie Wer in der digitalen Revolution untergeht

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Pharmabranche: Bayer hui, Grünenthal pfui

Das Werk der Bayer AG im Chemiepark in Leverkusen Quelle: dpa

Vorreiter Deutschland: Bayer

Alle Proteine einer Kartoffel analysieren, Eigenschaften von Bakterien erforschen oder die Daten des menschlichen Erbguts komplett erfassen: Forscher bei Bayer haben verschiedenste Aufgaben zu bewältigen, um den Pflanzenschutz voranzutreiben, die Qualität von Saatgut zu verbessern oder neue Medikamente gegen Krankheiten wie Krebs oder Alzheimer zu entwickeln. Studien, bei denen Unmengen von Daten anfallen.

„Diese Datenmengen müssen wir bewältigen“, sagt Bayer-Manager Felix Reichel, „um zielgerichtet zu forschen und zufällige Experimente zu vermeiden, um so einen Mehrwert für unser operatives Geschäft zu schaffen.“

Also hat der Pharma- und Chemiekonzern nicht nur seine Rechenzentren leistungsfähiger gemacht und Forscher besser untereinander vernetzt, sondern auch begonnen, IT-Spezialisten in Biowissenschaften zu schulen. „Die Grenzen zwischen IT und Forschung verschwimmen“, sagt Reichel.

Zum Beispiel über das Programm IT4omics, in dem Fachleute aus drei verschiedenen Sparten Wissenschaftler mit maßgeschneiderten IT-Lösungen dabei unterstützen, etwa Gene und Proteine von Pflanzen und Menschen zu erforschen. „Ohne diese hochkomplexen, digitalen Analysewerkzeuge und organisationsübergreifende Zusammenarbeit“, sagt Reichel, „wäre zeitgemäßes Arbeiten für unsere Forscher gar nicht mehr möglich.“

Das gilt auch für eine wichtige Klientel des Leverkusener Konzerns – die Landwirte. Die können über eine Bayer-App nicht nur einen Blick aufs kommende Wetter werfen – es gibt auch Tipps zum Einsatz von Düngemittel oder Saatgut.

Und wenn trotzdem eine Frage bleibt? „Dann“, sagt Bayer, „ist der nächste Vertriebsmitarbeiter nur einen Knopfdruck entfernt.“

So gut sind die Digitalstrategien der Pharmaunternehmen Quelle: Neuland, Digital Readiness Index (DRI)

Nachzügler Deutschland: Grünenthal

Vergangenen Herbst holte das Unternehmen die Vergangenheit wieder einmal ein – diesmal jenseits der deutschen Grenzen: 204 Millionen Euro sollte Grünenthal an 180 Spanier zahlen, die Grünenthal in Madrid verklagt hatten. Der Vorwurf: Der Konzern habe auch in Spanien Medikamente mit dem Contergan-Wirkstoff Thalidomid vertrieben, obwohl er von der Schädlichkeit gewusst habe.

„Nachlässiges Verhalten“, so das Urteil der Richterin, die den Opfern Entschädigung zubilligte: 20.000 Euro musste der Mittelständler aus der Nähe von Aachen einigen Klägern bezahlen – pro Prozentpunkt ihrer Behinderung, die diese vor Jahrzehnten durch das zweifelhafte Medikament mit dem schädlichen Wirkstoff erlitten hatten.
Neben dem finanziellen Schaden auch ein Kommunikations-GAU für die westfälischen Pillendreher: Nicht einmal eine Pressemitteilung zum Urteil findet man auf der Homepage, geschweige denn Infos auf Twitter, Facebook oder YouTube, wo sich seit Jahren Interessengruppen über die Politik des Unternehmens beschweren. Auf diesen Kanälen, die für das Gros der Konkurrenten längst zum kleinen Einmaleins zeitgemäßer Kommunikation zählen, ist Grünenthal schlicht nicht vertreten.

Einziges Zugeständnis ans digitale Zeitalter: ein paar Podcasts, aufgenommen in holprigem Englisch – zum Schmerzgedächtnis oder einem Stipendium für junge Wissenschaftler, die zum Thema Schmerz forschen.

Pionier International: 23andMe

Was etablierte Konkurrenten wie Bayer als Zukunft der Medizin beschreiben, ist für Anne Wojcicki längst Realität – und lukratives Geschäftsmodell: Die Gründerin des kalifornischen Start-ups 23andMe setzt seit acht Jahren auf den wachsenden Wunsch von Patienten, Medikamente und ärztliche Behandlungen genau auf ihre Bedürfnisse zuschneiden zu lassen.

Voraussetzung für solch personalisierte Gesundheitsservices: ein Gentest, der Patienten, Ärzten und Pharmaunternehmen eine genaue Vorstellung davon vermittelt, wie es um die körperliche Konstitution einer Person bestellt ist. Und auf Basis von Speicheltests herausfindet, ob ein erblich bedingtes erhöhtes Risiko vorliegt, an Krankheiten wie Alzheimer oder bestimmten Krebsarten zu erkranken.
Genau solche Gentests bietet 23andMe an: Verbraucher können sie auf der Internet-Seite des Start-ups bestellen, mit einer Speichelprobe zurückschicken. Und die Ergebnisse online abrufen.

Kosten: 99 Dollar, Informationen über die Abstammung der Testperson inklusive.


Erbgutanalysen von rund 650.000 Kunden hat das Start-up von Wojcicki, Ex-Frau von Google-Mitgründer Sergey Brin, dessen Unternehmen an 23andMe beteiligt ist, schon in seiner Datenbank angesammelt.

Dass vorerst keine dazukommen, weil die US-Gesundheitsbehörde FDA im November 2013 die Tests vorerst stoppte und ihr Kritiker moralische Bedenken vorhalten, ficht die 40-jährige Amerikanerin nicht an. Weil sie zumindest ihre bestehende Datenbank weiter nutzen darf, treibt sie ihr Geschäft voran. Wissenschaftlern und Pharmaunternehmen hat Wojcicki bereits Einblick in ihre Datensammlung verschafft, sie wird auch künftig Gespräche mit potenziellen Partnern aus aller Welt führen.

„Personalisierte Medizin ist die Zukunft“, sagte Wojcicki auf dem Gründerfestival South by Southwest im März – die Privatsphäre ihrer Kunden sieht sie nicht in Gefahr. Datenschutz sei zwar notwendig, „aber Menschen wollen ihre Informationen mit anderen teilen – nicht unbedingt auf Facebook, aber mit Ärzten und ihrer Familie.“

Ihr nüchternes Fazit: „Das heutige System ist zum Kotzen – unser Ziel ist es, das zu ändern.“ Ihr nächstes Projekt: die Analyse der Darmflora.

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