Es geht also nicht nur um den Blick in die Werkstatt?
Zunächst einmal um eine neue Art der Welterfassung, um den spontanen Zugriff auf die Wirklichkeit. Denken Sie an die zahllosen Wolkenstudien: Eine Wolke geht schnell vorüber, kaum da, ist sie schon wieder verflogen. Der Künstler muss fix arbeiten, hat keine Zeit zu überlegen. Und wenn er nicht fertig wird, schreibt er vielleicht an den Rand des Papiers „hier rosa“, „hier grün“, um Farbschattierungen später nachzutragen. Ich glaube, diese Ölstudien sind der Eintritt der Geschwindigkeit in die Kunstgeschichte. Und was daran so toll ist: Die Schnelligkeit des Zugriffs hält diese Arbeiten frisch. Wir können unsere eigene Naturwahrnehmung darin wiedererkennen. Diese Wolkenstudien sind sozusagen Short Cuts, die nicht altern, die lebendig bleiben…
…und deshalb zeitlos wirken. Trotzdem haben Sie auch fertige Bilder in Ihrem Auktionskatalog.
Fast gar nicht mehr. Vielleicht noch zwei oder drei, wenn sie besonders gelungen sind.
Warum wirken die heute so antiquiert?
Meine unfertige These lautet: Weil sie als Atelierbilder auf Bestellung produziert wurden, also für einen Markt und für eine Kunstöffentlichkeit, die es heute nicht mehr gibt. Sie sollten zur damaligen Zeit gefallen und verkauft werden.
Und um 1830 oder 1850 weiß ein deutscher Maler, der nach Italien reist, sehr genau, was von ihm erwartet wird?
Ja, eine typisch italienische Landschaft. Mit südlichem Kolorit. Womöglich mit einer tanzenden Neapolitanerin im Vordergrund, dann wird‘s nochmal ein bisschen teurer. Das sind Wohlfühlbilder. Die Maler bedienen die deutsche Italien-Sehnsucht, sie arbeiten mit Stereotypen, mit trivialisierten Versatzstücken des Mediterranen... Aber malen konnten sie natürlich trotzdem.
Es gibt tausende Bilder der Bucht von Neapel, mit dem rauchenden Vesuv im Hintergrund. Operettenlandschaften.
Ja, aber noch fataler ist die zeittypische Vorliebe für Kühe, Ziegen oder Enten. Oder für Bauern, die wie Bühnenfiguren vor die Landschaftskulisse gesetzt werden. Das sind alles Requisiten, die die Bilder in ihrer Zeit gefangen halten, sie unglaublich altmodisch machen. Wir versuchen ein vegetarisches 19. Jahrhundert anzubieten, also ganz ohne Ziegen, Enten und Kühe.
Kommt daher der Kitschverdacht, der lange Zeit über der Malerei des 19. Jahrhunderts schwebte?
Auch. Entscheidend ist aber etwas anderes. Die Kunst des 19. Jahrhunderts wurde lange Zeit abgelehnt, ja ignoriert, auch unter Kunsthistorikern, weil die Nationalsozialisten sie favorisierten und für ihr Führermuseum in Linz sammelten. Es ist die Kombination von Kitschverdacht und falscher Gesinnung in Deutschland, die das 19. Jahrhundert kontaminierte. Oder noch simpler: Weil die Nazis diese Kunst mochten, durften wir sie nicht mögen.
Und liebten stattdessen die Expressionisten…
…die von den Nazis als böse, als entartet abgestempelt wurden. Es ist merkwürdig und nur aus unserer Geschichte heraus verständlich. Die „Brücke“-Maler, die sich in jeder Hinsicht „anti“ gaben, mit ihren rosa Bäumen und grünen Gesichtern, gelten in Deutschland als „schön“. In allen Bildungsschichten. Eine total verrückte Karriere: von der absoluten Außenseiterkunst zur Staatskunst. Bis hinein in die Räume des Kanzleramts haben es Kirchner und Heckel seit den 60er, 70er Jahren geschafft und natürlich auch Nolde. Nicht zuletzt weil die Museen und Kunsthistoriker von 1945 bis 1960 diese Kunst rehabilitiert haben. Das war eine wichtige Wiedergutmachung. Aber danach kam schon die Gegenwartsmoderne – und das 19. Jahrhundert war vollkommen vergessen.
Bei allen Kunstliebhabern?
Fast bei allen. In den Siebziger-, Achtzigerjahren hat etwa ein Spitzweg noch Höchstpreise erzielt. Da kam es vor, dass sich ein paar Großindustrielle bei Auktionen gegenseitig hochschaukelten auf bis zu zwei Millionen D-Mark. Das ist vorbei.
Und heute?
Die Sammler des 19. Jahrhunderts, mit denen ich es vor allem zu tun habe, sind zwischen 35 und 45 oder 85 Jahre alt. An die Generation der 55– bis 65-Jährigen, die in Politik und Wirtschaft am Ruder sind, kommen wir mit dieser Kunst kaum heran. Die gucken bei der Vorbesichtigung kurz rein, sagen „hier ist nur Altes“ und gehen weiter. Die Jüngeren sind anders. Neugieriger. Unbefangener. Die wollen wissen: Was hat es mit diesem 19. Jahrhundert auf sich?