Fülle des Leerlaufs Langeweile: Die besten Ideen kommen beim Nichtstun

Sensationell langweilig. Man muss die Zeit nicht vertreiben, sagt Walter Benjamin, man muss sie zu sich einladen. Quelle: imago images

Während Corona traf sie zuletzt deutlich mehr Menschen als sonst und viel-beschäftigte Karrieristen empfinden sie als Todsünde: die Langeweile. Dabei wird sie von Wissenschaftlern gelobt – als geistige Produktivkraft.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Die besten Ideen kommen Norbert Bolz, wenn er bei Sonnenschein auf der Liege ruht – und nichts tut. Eine „asketische Übung“, sagt Bolz, über Jahrzehnte „erprobt und trainiert“, in einsamen Stunden, mit dem schönen Effekt, dass er danach die Welt „ein bisschen anders sieht“, womöglich einen „neuen Gedanken“ entdeckt und entwickelt. Der sei „fast immer das Resultat von Langeweile“. Genauer: der „Fähigkeit zur Langeweile“, die es zu erlernen gilt.

Seit Jahren gehört der Berliner Medientheoretiker zu den fleißigsten Bücherschreibern und Vortragsrednern. Doch zuletzt stimmte er ein furioses „Lob der Langeweile“ an.

Langeweile? Dazu hat der viel beschäftigte, multitaskende Karrieremensch von heute gar keine Zeit! Dazu ist er doch tatsächlich oder gefühlt viel zu wichtig, mit seinen Ideen, seinem Schwung, seiner nie versiegenden Unternehmungslust. Ein Hochleistungsartist, der den Thrill der Herausforderung sucht. Ein Optimierungsvirtuose, der kontinuierlich an sich arbeitet.

Auch im Urlaub. Mag sein, dass halb Deutschland in den nächsten Wochen die Küsten belagert oder in Bergen herumklettert. Die meisten Büroarbeiter werden es nicht ohne geschäftigen Blick aufs Smartphone tun: „Zwei Tage am Strand herumliegen? Dann drehe ich durch!“ Dabei ist es unter Denkern schon lange common sense, dass Langeweile die Produktivität fördert: „Die Götter langweilten sich“, schrieb der dänische Philosoph Søren Kierkegaard, „darum schufen sie den Menschen. Adam langweilte sich, weil er allein war, darum wurde Eva erschaffen“ – und so fort.

Viele Menschen arbeiten wegen des Coronavirus von zu Hause, häufig mit der ganzen Familie im Rücken. Unter diesen Umständen sollte jeder gütig mit sich selbst sein, sagt Christoph Magnussen und rät Chefs zum Loslassen.
von Nora Schareika

Johann Wolfgang von Goethe wiederum begrüßte die Langeweile als „Mutter der Musen“, der man Zeit geben muss, damit sie einen küsst. Und der deutsche Philosoph Walter Benjamin verglich sie mit dem „Traumvogel“, welcher „das Ei der Erfahrung ausbrütet“.

Soll heißen: Die besten Einfälle kommen den Menschen möglicherweise beim Lungern auf dem Sofa oder beim Aus-dem-Fenster-Gucken im Zug. Wenn sie abschalten. Und wenn sich aus der inneren Leere, aus dem Mangelgefühl plötzlich eine Idee formt. Friedrich Nietzsche sprach von der Langeweile als „Windstille der Seele“, die der „glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangeht“.

Dösen stimuliert

Auch angloamerikanische Psychologen heben inzwischen ihre Motivationspotenziale hervor: Es gärt im Gelangweilten. John Eastwood von der York-Universität in Toronto spricht von einem „Zustand des Verlangens nach Tätigkeit, ohne dass man jedoch genauer wüsste, wonach einem verlangt“.

In der Langeweile lassen wir uns deshalb leicht ablenken. Die Aufmerksamkeit ist nicht fokussiert, weder auf die innere noch die äußere Welt. Stattdessen schweift sie ab, geht auf die Suche. Kreativ werden Gelangweilte freilich nur, wenn sie innere Unruhe mit einem hohen Grad von Selbstkontrolle verbinden: Dann kann Langeweile zu explorativem Verhalten veranlassen.

Shane Bench, Psychologe an der Utah-State-Universität, spricht von der Langeweile als „seeking state“: Sie weckt den Wunsch nach neuen, alternativen Erfahrungen, auch nach nicht hedonistischen Stimuli. Unangenehme Erlebnisse sind ausdrücklich erwünscht, es darf auch weh tun.

Auch im Homeoffice ist eine Pause wichtig (vielleicht sogar gerade da). Deshalb sollte man sie nicht am Schreibtisch verbringen. Diese sechs Tipps helfen, sich mittags zu erholen.
von Nina Jerzy

Letztlich verbirgt sich in den Suchbewegungen der Langeweile nicht weniger als die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Jobs: Langeweile kann das richtige Symptom in einem falschen Berufsleben sein, sie weckt den Hunger nach erlebtem Leben, befeuert das Verlangen nach erfüllter, zufriedenstellender Aktivität.

Keineswegs ist Langeweile also gleichzusetzen mit Apathie. Im Gegenteil: Sie bringt Unruhe ins Leben, ihr liegt eine Sehnsuchtsspannung zugrunde, die über sich hinaus, auf ein „unbestimmtes Anderes“ verweist. „Wer sich langweilt“, betont Norbert Bolz, „will etwas anderes.“ Er ist ein Suchender – nach dem Wesentlichen? Nach tieferer Bedeutung? Oder schlicht nach Anregung und Ablenkung?

Schon der österreichische Psychoanalytiker Otto Fenichel, ein Schüler Sigmund Freuds, hat die Wunschbestimmtheit der Langeweile hervorgehoben: den Widerstreit von Bedürfnis und Hemmung, von Anspannung und mangelnder Abfuhr, von Reizhunger und Unzufriedenheit mit den gebotenen Reizen.

Ein typisches Frustrationserlebnis? Thomas Götz, Professor für Empirische Bildungsforschung an der Universität Konstanz und der Pädagogischen Hochschule Thurgau, hat Langeweile an einem klassischen Beispiel untersucht: dem Schulunterricht. In der Schule ist Langeweile das dominierende Gefühl – vor Freude, Ärger und Angst. Rund 50 Prozent der deutschen Schüler geben an, sich regelmäßig zu langweilen (in den USA sind es 70 Prozent).

Dabei wird Langeweile, so einer von Götz“ wichtigsten Befunden, von den Schülern durchaus unterschiedlich erlebt, keineswegs nur als quälend. Im Gegenteil: Die einen erleben Langeweile als Entspannung, als angenehme Müdigkeit, als Einladung zum Dösen. Die anderen nutzen sie als Chance zur Reaktivierung, lassen die Gedanken schweifen, melden sich plötzlich und kehren zurück in den Unterricht.
Verhaltensvarianten, die, so Götz, auf den evolutionären Sinn von Langeweile hindeuten. Wenn Wunsch und Wirklichkeit auseinanderklaffen, „kalibriert sich das System Mensch neu“: Man wendet sich attraktiveren Beschäftigungen zu, sucht nach Ersatzaktivitäten.

Der Büromensch kennt das von langweiligen Konferenzen, bei denen Präsenzpflicht herrscht: Wenn er klug ist, nutzt er den Sitzplatz in der hinteren Reihe, um am Laptop den nächsten Termin vorzubereiten; brütet über einem unerledigten Problem; plant den nächsten Herbsturlaub; oder übt sich in mentalem Eskapismus, in Tagträumereien. Neurowissenschaftler sprechen in solchen Fällen vom Leerlauf- oder Default-Mode-Network, das beim Nichtstun in Gang kommt, wenn wir uns gelangweilt zurücklehnen und das Denken ungerichtet umhertreibt: Etwa 50 Prozent unserer Wachzeit verbringen wir so. Zeitverschwendung? Keineswegs.

Tagträume machen kreativ

Bewusste und unbewusste Hirnareale „arbeiten“ in diesem Modus offenbar miteinander – und gehen eigene, schöpferische Wege. Bei Tests haben gelangweilte Tagträumer sich jedenfalls als besonders einfallsreich erwiesen: Dösen stimulierte ihre Leistungsfähigkeit, das unterforderte Gehirn erwies sich als besonders kreativ. Sollten, wie ein Witzbold mal vermutet hat, Albert Einstein die Ideen für die Relativitätstheorie vielleicht während seiner eher langweiligen Bürotätigkeit im Berner Patentamt gekommen sein?

Wie fantasievoll können Kinder sein, wenn man ihnen nur Zeit lässt, sich zu langweilen! Von dem amerikanischen Verhaltensökonom Richard Thaler, dem Wirtschaftsnobelpreisträger von 2017, wird erzählt, dass er als Kind besonders gut darin war, der Langeweile zu entkommen. So erfand er zum Beispiel neue Spielregeln für Monopoly: Alle Straßen sollten zu Beginn des Spiels an die Spieler verkauft werden, um das Zufallsprinzip zu mindern.

Dass Langeweile tatsächlich den Einfallsreichtum fördert, konnten Kognitionspsychologen in den vergangenen Jahren immer wieder experimentell nachweisen. So ließen die britischen Forscherinnen Sandi Mann und Rebekah Cadman von der Universität Central Lancashire ihre Versuchspersonen Nummern aus einem Telefonbuch abschreiben, danach durften sie sich beliebige Verwendungszwecke für zwei Plastikbecher einfallen lassen. Das Resultat: Die Gelangweilten zeigten deutlich mehr Fantasie als eine Vergleichsgruppe, die vorher eine anspruchsvolle Aufgabe zu lösen hatte.

In einem zweiten Versuch wiederum verglichen die Wissenschaftlerinnen eine Gruppe, die Telefonnummern abschrieb, mit einer anderen, die im Telefonbuch nur blättern durfte. Auch hier korrelierte gesteigerte Langeweile mit Einfallsreichtum: Den Telefonbuchlesern fiel alles Mögliche ein, was man mit Plastikbechern anstellen könnte. Jedenfalls mehr als den Abschreibern.

Ödstrecken im beruflichen Alltag, so folgerten die Forscherinnen, sind besser als ihr Ruf: Ein episodischer Leerlauf lädt zum Um-die-Ecke- und Ins-Blaue-Denken ein, zu Erkundungen jenseits des Konventionellen. „Wenn wir tagträumen“, so Sandi Mann, „zapfen wir das Unterbewusste an“: Es bringt uns auf neue Ideen.

Kluge Tatmenschen wie Bill Gates oder Warren Buffett planen deshalb täglich ein bisschen Zeit ein – fürs kreative Nichtstun. Schon aus Gründen der Effizienz. Der israelisch-amerikanische Psychologe Amos Tversky hat den luxurierenden Umgang mit Zeit zu einem Bonmot zugespitzt: „Man vergeudet Jahre, wenn man nicht in der Lage ist, Stunden zu vergeuden.“ Das Geheimnis eines guten Forschers sei deshalb, „immer ein wenig unterbeschäftigt zu sein“.

Eine Kulturtechnik, typisch für die intellektuelle Elite? Norbert Bolz zitiert in seinem „Lob der Langeweile“ John Maynard Keynes: Der britische Ökonom glaubte, dass die Tragödie der Wohlstandsgesellschaft darin besteht, dass wir mit der freien Zeit, die wir uns immer gewünscht haben, nichts anzufangen wissen.

Die Unterhaltungsindustrie sorgt zwar für Ablenkung, aber die Langeweile kehrt regelmäßig wieder, sie ist, wie Bolz sagt, die „Kehrseite der Unterhaltung“. Schon deshalb empfiehlt er, sich ihr zu stellen, sie womöglich als „Chance der Selbstbegegnung“ zu nutzen: „Fruchtbar wird die Langeweile erst, wenn ich, statt zu sagen: Etwas langweilt mich, zu der Erkenntnis vorstoße: Ich langweile mich.“

Der an der Universität Witten/Herdecke lehrende Philosoph und Managerberater Jürgen Werner ergänzt: Langeweile sei das „Nicht-Intentionale“ schlechthin – und gerade deshalb so faszinierend. Langeweile wiederzugewinnen heiße deshalb zunächst, sich ihr auszuliefern. Also Geduld mit ihr zu haben: Man müsse ihr Gelegenheit geben, „dass sie sich einstellt“.

Eine anstrengende, aber lohnende Übung. Denn die wisse dann mit wichtigen Einsichten zu beglücken: etwa, dass das Lassen dem Tun gegenüber gelegentlich einen höheren Wert hat. Jürgen Werner hat bei täglichen Exerzitien die Erfahrung gemacht, dass die Zeit im Zustand der gelassenen Langeweile sich keineswegs aufdrängt, sondern dass man sie vergisst, mehr noch: dass sie zum Raum wird, der sich uns öffnet und zum Verweilen lädt, eine befreiende Erfahrung, die man „nicht herbeizwingen kann“.

Ob sie Managern zu empfehlen ist? Wohl nur denen, die es aushalten, plötzlich vor sich selber zu stehen. Langeweile, so Werner, sei eine Erfahrung, die quer steht zu den Imperativen der Geschäftswelt. Da redet man lieber über „Quality time“. Dabei ist er davon überzeugt, dass derjenige, der die „echte Langeweile“ sucht, „am Ende auch viel besser wird“.

Dieser Text erschien erstmals im Sommer 2018 bei der WirtschaftsWoche.

Mehr zum Thema: Stephan Grünewald hat sich in seiner Forschung mehrfach mit der Psyche der Deutschen auseinander gesetzt. Lesen Sie hier das Interview über den „Homo postcorona“.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%