Fülle des Leerlaufs Langeweile: Die besten Ideen kommen beim Nichtstun

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Tagträume machen kreativ

Bewusste und unbewusste Hirnareale „arbeiten“ in diesem Modus offenbar miteinander – und gehen eigene, schöpferische Wege. Bei Tests haben gelangweilte Tagträumer sich jedenfalls als besonders einfallsreich erwiesen: Dösen stimulierte ihre Leistungsfähigkeit, das unterforderte Gehirn erwies sich als besonders kreativ. Sollten, wie ein Witzbold mal vermutet hat, Albert Einstein die Ideen für die Relativitätstheorie vielleicht während seiner eher langweiligen Bürotätigkeit im Berner Patentamt gekommen sein?

Wie fantasievoll können Kinder sein, wenn man ihnen nur Zeit lässt, sich zu langweilen! Von dem amerikanischen Verhaltensökonom Richard Thaler, dem Wirtschaftsnobelpreisträger von 2017, wird erzählt, dass er als Kind besonders gut darin war, der Langeweile zu entkommen. So erfand er zum Beispiel neue Spielregeln für Monopoly: Alle Straßen sollten zu Beginn des Spiels an die Spieler verkauft werden, um das Zufallsprinzip zu mindern.

Dass Langeweile tatsächlich den Einfallsreichtum fördert, konnten Kognitionspsychologen in den vergangenen Jahren immer wieder experimentell nachweisen. So ließen die britischen Forscherinnen Sandi Mann und Rebekah Cadman von der Universität Central Lancashire ihre Versuchspersonen Nummern aus einem Telefonbuch abschreiben, danach durften sie sich beliebige Verwendungszwecke für zwei Plastikbecher einfallen lassen. Das Resultat: Die Gelangweilten zeigten deutlich mehr Fantasie als eine Vergleichsgruppe, die vorher eine anspruchsvolle Aufgabe zu lösen hatte.

In einem zweiten Versuch wiederum verglichen die Wissenschaftlerinnen eine Gruppe, die Telefonnummern abschrieb, mit einer anderen, die im Telefonbuch nur blättern durfte. Auch hier korrelierte gesteigerte Langeweile mit Einfallsreichtum: Den Telefonbuchlesern fiel alles Mögliche ein, was man mit Plastikbechern anstellen könnte. Jedenfalls mehr als den Abschreibern.

Ödstrecken im beruflichen Alltag, so folgerten die Forscherinnen, sind besser als ihr Ruf: Ein episodischer Leerlauf lädt zum Um-die-Ecke- und Ins-Blaue-Denken ein, zu Erkundungen jenseits des Konventionellen. „Wenn wir tagträumen“, so Sandi Mann, „zapfen wir das Unterbewusste an“: Es bringt uns auf neue Ideen.

Kluge Tatmenschen wie Bill Gates oder Warren Buffett planen deshalb täglich ein bisschen Zeit ein – fürs kreative Nichtstun. Schon aus Gründen der Effizienz. Der israelisch-amerikanische Psychologe Amos Tversky hat den luxurierenden Umgang mit Zeit zu einem Bonmot zugespitzt: „Man vergeudet Jahre, wenn man nicht in der Lage ist, Stunden zu vergeuden.“ Das Geheimnis eines guten Forschers sei deshalb, „immer ein wenig unterbeschäftigt zu sein“.

Eine Kulturtechnik, typisch für die intellektuelle Elite? Norbert Bolz zitiert in seinem „Lob der Langeweile“ John Maynard Keynes: Der britische Ökonom glaubte, dass die Tragödie der Wohlstandsgesellschaft darin besteht, dass wir mit der freien Zeit, die wir uns immer gewünscht haben, nichts anzufangen wissen.

Die Unterhaltungsindustrie sorgt zwar für Ablenkung, aber die Langeweile kehrt regelmäßig wieder, sie ist, wie Bolz sagt, die „Kehrseite der Unterhaltung“. Schon deshalb empfiehlt er, sich ihr zu stellen, sie womöglich als „Chance der Selbstbegegnung“ zu nutzen: „Fruchtbar wird die Langeweile erst, wenn ich, statt zu sagen: Etwas langweilt mich, zu der Erkenntnis vorstoße: Ich langweile mich.“

Der an der Universität Witten/Herdecke lehrende Philosoph und Managerberater Jürgen Werner ergänzt: Langeweile sei das „Nicht-Intentionale“ schlechthin – und gerade deshalb so faszinierend. Langeweile wiederzugewinnen heiße deshalb zunächst, sich ihr auszuliefern. Also Geduld mit ihr zu haben: Man müsse ihr Gelegenheit geben, „dass sie sich einstellt“.

Eine anstrengende, aber lohnende Übung. Denn die wisse dann mit wichtigen Einsichten zu beglücken: etwa, dass das Lassen dem Tun gegenüber gelegentlich einen höheren Wert hat. Jürgen Werner hat bei täglichen Exerzitien die Erfahrung gemacht, dass die Zeit im Zustand der gelassenen Langeweile sich keineswegs aufdrängt, sondern dass man sie vergisst, mehr noch: dass sie zum Raum wird, der sich uns öffnet und zum Verweilen lädt, eine befreiende Erfahrung, die man „nicht herbeizwingen kann“.

Ob sie Managern zu empfehlen ist? Wohl nur denen, die es aushalten, plötzlich vor sich selber zu stehen. Langeweile, so Werner, sei eine Erfahrung, die quer steht zu den Imperativen der Geschäftswelt. Da redet man lieber über „Quality time“. Dabei ist er davon überzeugt, dass derjenige, der die „echte Langeweile“ sucht, „am Ende auch viel besser wird“.

Dieser Text erschien erstmals im Sommer 2018 bei der WirtschaftsWoche.

Mehr zum Thema: Stephan Grünewald hat sich in seiner Forschung mehrfach mit der Psyche der Deutschen auseinander gesetzt. Lesen Sie hier das Interview über den „Homo postcorona“.

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