Der Veganismus dieser Tage ist das erfolgreichste Produkt einer Nahrungsgesellschaft, die „richtig“ leben möchte. Kein Tier soll für den Menschen leiden, gar sterben. Doch für Veganer ist es nicht damit getan, das Tier nicht zu verspeisen. Auch seine weitere Nutzung ist verpönt: Die Milch gehört den Kälbern, die Eier gehören den Hühnern.
Vor 20 Jahren waren vegane Restaurants kulinarische Exoten. Wer heute in touristischen Schmelzpunkten wie Nieblum auf Föhr angesichts der allgegenwärtigen historisierenden Neubauten glaubt, hier solle alles werden, wie es war, stutzt spätestens an der Schiefertafel des Hofcafés, das wie selbstverständlich wirbt: „Kuchen auch vegan und glutenfrei.“
In den Städten ist Veganismus längst – neben Edel-Burger-Brätern – zum auffällig expandierenden Gastrotrend geworden. Kein Sternekoch, der nicht mittlerweile einen Abend mit Spargel in Variationen und in Heu gegartem Sellerie bestreiten könnte.
Besonders leistungswillige Konsumenten vereinbaren Ausdauersport mit kulinarischer Kasteiung. Zu den politisch Motivierten gesellen sich die Selbstoptimierer in der Tradition der griechischen Philosophie. Allein – es wird weniger gefragt, was gut ist für den Körper, sondern vor allem festgehalten, was schlecht für ihn ist.
Und die Liste wird immer länger: Fleisch, Milch und weißes Mehl. Das Kleber-Eiweiß Gluten ist derart in Verruf geraten, dass sich zwischen dem 14. und 21. Oktober die britischen Filialen von McDonald’s zu einer Testwoche entschlossen: Burger „gluten free“.
Für jeden Trend die passende Diät
Milch, einst Muntermacher für müde Männer, gilt zunehmend als unverträgliches Nahrungsmittel, das krank macht. Die Laktose-Intoleranz ist die jüngste Goldgrube für die Nahrungsmittelindustrie. Neben den tatsächlich betroffenen Menschen, deren Körper den Milchzucker nur schlecht oder gar nicht aufspalten kann, bedient sie eine weitere Gruppe: diejenigen, die Verdauungsschwierigkeiten per Selbstdiagnose auf den derzeitigen Prügelknaben des Kühlregals schieben. Folgerichtig bedient die Industrie diese Zielgruppe oftmals unter dem Label „Laktosefrei“ mit einem Produkt, das wie viele Hartkäse von Anfang an nie Laktose enthielt.
Unsere Beschwerden sind dabei für uns kein Grund, beschämt zu schweigen. Im Gegenteil, sie mutieren zum Ausdruck unserer Individualität. Die Autorin Susanne Schäfer diagnostizierte in der Wochenzeitung „Die Zeit“: „Wer alles klaglos hinunterschluckt und verdaut, sitzt dazwischen wie ein Klotz: unsensibel, unreflektiert – kurz: von gestern.“
Selbst die Normen der Diätprediger werden angepasst. Im Lanserhof am Tegernsee, wo sich zahlungskräftige Gäste nach der F.-X.-Mayr-Fastenkur schlank oder gesund oder beides hungern wollen, wurde das traditionelle Milchbrötchen ersetzt. Sah Diät-Erfinder Mayr vor, dass die Patienten 30-mal jeden Bissen eines Milchbrötchens kauten, tun sie das nun immer noch 30-mal: auf einem glutenfreien Dinkelbrötchen. Sicher ist sicher.
Für jeden Trend die passende Diät – und wenn man dafür zurück in die Höhle muss. Die Paleo-Diät setzt auf Fleisch, Gemüse und Nüsse. Was schon für die Steinzeitmenschen, unsere Mammutfleisch verzehrenden Vorfahren vor rund 100.000 Jahren gut war, so die Idee, kann für uns nicht schlecht sein.
In diesen Ländern leben die meisten Vegetarier und Veganer
Norwegen: 4 Prozent der Bevölkerung sind Vegetarier oder Veganer
Datenquelle: Statista
Niederlande: 4,5 Prozent der Bevölkerung sind Vegetarier oder Veganer
Australien: 5 Prozent der Bevölkerung sind Vegetarier oder Veganer
Schweiz: 5 Prozent der Bevölkerung sind Vegetarier oder Veganer
Italien: 6,7 Prozent der Bevölkerung sind Vegetarier oder Veganer
Brasilien: 8 Prozent der Bevölkerung sind Vegetarier oder Veganer
Israel: 8,5 Prozent der Bevölkerung sind Vegetarier oder Veganer
Deutschland: 9 Prozent der Bevölkerung sind Vegetarier oder Veganer
Taiwan: 10 Prozent der Bevölkerung sind Vegetarier oder Veganer
Indien: 40 Prozent der Bevölkerung sind Vegetarier oder Veganer
Doch selbst wer glaubt, er äße alles gern, kann sich mitunter der „Thematisierungskonjunktur“ nicht entziehen, der, laut Gunther Hirschfelder, unser Essen heute unterliegt. Da wären etwa die Selbstkocher: Menschen, die sich die Mühe machen, Zwiebeln zu schneiden, Brühen aufzusetzen und Nudelteig durch die Maschine zu drehen, um ihn mit Ziegenfrischkäse zu Ravioli zu formen.
Der Griff zu den Küchenhelferlein wie fertigen Fonds oder – der Küchengott möge es verhüten – Fertigmischungen für Carbonara oder Gulasch ist ihnen so zuwider wie Vegetariern der Biss ins Mettbrötchen. Die gefühlte moralische Überlegenheit speist sich aus der Überzeugung, durch das Kochen nicht den Kontakt zur Natur verloren zu haben.