Genuss ohne schlechtes Gewissen Esst, was auf den Tisch kommt!

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Intoleranzen und Unverträglichkeiten als Goldgrube

Der Veganismus dieser Tage ist das erfolgreichste Produkt einer Nahrungsgesellschaft, die „richtig“ leben möchte. Kein Tier soll für den Menschen leiden, gar sterben. Doch für Veganer ist es nicht damit getan, das Tier nicht zu verspeisen. Auch seine weitere Nutzung ist verpönt: Die Milch gehört den Kälbern, die Eier gehören den Hühnern.

Vor 20 Jahren waren vegane Restaurants kulinarische Exoten. Wer heute in touristischen Schmelzpunkten wie Nieblum auf Föhr angesichts der allgegenwärtigen historisierenden Neubauten glaubt, hier solle alles werden, wie es war, stutzt spätestens an der Schiefertafel des Hofcafés, das wie selbstverständlich wirbt: „Kuchen auch vegan und glutenfrei.“

So essen die Deutschen am liebsten
FleischDie Deutschen lieben Fleisch. Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag des Bundesagrarministers Christian Schmidt (CSU) kommen bei vier von fünf Deutschen (83 Prozent) Fleisch und Wurst mehrmals in der Woche auf den Tisch. Quelle: AP
GeschlechtsunterschiedeBesonders Männer und Bürger aus den neuen Bundesländern bestehen auf ihr tägliches Schinkenbrötchen und ihr Schnitzel. Insgesamt ernähren sich Frauen gesünder als Männer. Schmidt sprach insgesamt von einem „eigentlich ziemlich guten Befund“. Gemeinsam mit Forsa-Chef Manfred Güllner bescheinigte der Minister den Deutschen bei ihrem Ess- und Konsumverhalten die Note 2 bis 3. Das Klassenziel sei erreicht, einige Werte müssten aber noch verbessert werden. Quelle: Fotolia
PastaLaut dem Ernährungsreport 2016 ist das Lieblingsgericht der Deutschen aber nicht Wurst oder Steak, sondern Pasta. Die dann vermutlich mit Hackfleischsauce. 35 Prozent nennen Spaghetti, Spätzle & Co als Lieblingsgericht. Quelle: AP
LieblingsessenWeitere Lieblingsgerichte nach Nudeln sind Gemüse- und Kartoffelgerichte (18 Prozent) sowie Fischgerichte (16). Salat bezeichneten 15 Prozent als ihre Leibspeise, das Schnitzel nannten nur elf Prozent. Quelle: dpa
Vegetarier und VeganerNur drei Prozent der Deutschen verzichten ganz auf Fleisch und Wurst. Nur sechs Prozent der Frauen und lediglich ein Prozent der Männer geben an, nie Fleisch oder Wurst zu essen, wie aus von Bundesagrarminister Christian Schmidt (CSU) vorgelegten „Ernährungsreport 2016“ hervorgeht. Quelle: Blumenbüro Holland/dpa/gms
Bio-LebensmittelIm Trend liegen eine artgerechte Tierhaltung sowie Regionales: Fast alle Befragten wären bereit, für Fleisch aus tiergerechter Haltung mehr zu zahlen. 86 Prozent der Verbraucher sind für ein besseres Einkommen der Landwirte. Etwas mehr als drei Viertel legen zudem Wert darauf, dass die Lebensmittel aus der Region kommen. Quelle: dpa
EinkaufenTrotz steigenden Angebots nutzt laut der Umfrage bisher kaum jemand (durchschnittlich weniger als 1 Prozent) die Möglichkeit, Lebensmittel im Internet zu bestellen und sich diese nach Hause liefern zu lassen. Aber jeder Fünfte nutzt das Smartphone und „googelt“ beim Einkauf. Trotzdem fühle sich aber auch fast ein Viertel der Befragten (24 Prozent) weniger gut bis schlecht informiert über die Lebensmittel, die sie kaufen. Quelle: dpa

In den Städten ist Veganismus längst – neben Edel-Burger-Brätern – zum auffällig expandierenden Gastrotrend geworden. Kein Sternekoch, der nicht mittlerweile einen Abend mit Spargel in Variationen und in Heu gegartem Sellerie bestreiten könnte.

Besonders leistungswillige Konsumenten vereinbaren Ausdauersport mit kulinarischer Kasteiung. Zu den politisch Motivierten gesellen sich die Selbstoptimierer in der Tradition der griechischen Philosophie. Allein – es wird weniger gefragt, was gut ist für den Körper, sondern vor allem festgehalten, was schlecht für ihn ist.

Und die Liste wird immer länger: Fleisch, Milch und weißes Mehl. Das Kleber-Eiweiß Gluten ist derart in Verruf geraten, dass sich zwischen dem 14. und 21. Oktober die britischen Filialen von McDonald’s zu einer Testwoche entschlossen: Burger „gluten free“.

Für jeden Trend die passende Diät

Milch, einst Muntermacher für müde Männer, gilt zunehmend als unverträgliches Nahrungsmittel, das krank macht. Die Laktose-Intoleranz ist die jüngste Goldgrube für die Nahrungsmittelindustrie. Neben den tatsächlich betroffenen Menschen, deren Körper den Milchzucker nur schlecht oder gar nicht aufspalten kann, bedient sie eine weitere Gruppe: diejenigen, die Verdauungsschwierigkeiten per Selbstdiagnose auf den derzeitigen Prügelknaben des Kühlregals schieben. Folgerichtig bedient die Industrie diese Zielgruppe oftmals unter dem Label „Laktosefrei“ mit einem Produkt, das wie viele Hartkäse von Anfang an nie Laktose enthielt.

Das essen die Deutschen in der Kantine am liebsten
Kantinenessen wird gesünder Quelle: dpa
Pizza Quelle: AP
Hähnchengyros Quelle: Fotolia
Platz acht geht an die Lasagne Bolognese mit Rinderhack. In den vergangenen Jahren kam das Gericht immer unter die Top Ten. Quelle: REUTERS
Bami Goreng Quelle: dpa
Cappelletti-Pesto-Pfanne Quelle: dpa
Schnitzel Quelle: Fotolia

Unsere Beschwerden sind dabei für uns kein Grund, beschämt zu schweigen. Im Gegenteil, sie mutieren zum Ausdruck unserer Individualität. Die Autorin Susanne Schäfer diagnostizierte in der Wochenzeitung „Die Zeit“: „Wer alles klaglos hinunterschluckt und verdaut, sitzt dazwischen wie ein Klotz: unsensibel, unreflektiert – kurz: von gestern.“

Selbst die Normen der Diätprediger werden angepasst. Im Lanserhof am Tegernsee, wo sich zahlungskräftige Gäste nach der F.-X.-Mayr-Fastenkur schlank oder gesund oder beides hungern wollen, wurde das traditionelle Milchbrötchen ersetzt. Sah Diät-Erfinder Mayr vor, dass die Patienten 30-mal jeden Bissen eines Milchbrötchens kauten, tun sie das nun immer noch 30-mal: auf einem glutenfreien Dinkelbrötchen. Sicher ist sicher.

Für jeden Trend die passende Diät – und wenn man dafür zurück in die Höhle muss. Die Paleo-Diät setzt auf Fleisch, Gemüse und Nüsse. Was schon für die Steinzeitmenschen, unsere Mammutfleisch verzehrenden Vorfahren vor rund 100.000 Jahren gut war, so die Idee, kann für uns nicht schlecht sein.

In diesen Ländern leben die meisten Vegetarier und Veganer

Doch selbst wer glaubt, er äße alles gern, kann sich mitunter der „Thematisierungskonjunktur“ nicht entziehen, der, laut Gunther Hirschfelder, unser Essen heute unterliegt. Da wären etwa die Selbstkocher: Menschen, die sich die Mühe machen, Zwiebeln zu schneiden, Brühen aufzusetzen und Nudelteig durch die Maschine zu drehen, um ihn mit Ziegenfrischkäse zu Ravioli zu formen.

Der Griff zu den Küchenhelferlein wie fertigen Fonds oder – der Küchengott möge es verhüten – Fertigmischungen für Carbonara oder Gulasch ist ihnen so zuwider wie Vegetariern der Biss ins Mettbrötchen. Die gefühlte moralische Überlegenheit speist sich aus der Überzeugung, durch das Kochen nicht den Kontakt zur Natur verloren zu haben.

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