German Angst Fürchtet euch nicht!

Quelle: dpa

Deutschland steht in der Eurokrise besser da als alle anderen Länder. Und dennoch raubt eine obskure Angst den Deutschen den Mut für die Zukunft. Die Ursachen liegen tief in der leidvollen Geschichte.

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Die Ergebnisse sind aus deutscher Sicht erschütternd. Auf die Frage, ob sie ihr Land für kinderfreundlich halten, antworteten nur 15 Prozent der Deutschen mit ja. Der mit Abstand geringste Anteil im Vergleich mit 11 anderen europäischen Ländern. Zum Vergleich: 90 Prozent der Dänen halten ihr Land für kinderfreundlich. In Spanien, wo rund die Hälfte der jungen Menschen arbeitslos sind, waren es immerhin noch 49 Prozent. Mit den real existierenden Bedingungen für Familien oder den wirtschaftlichen Aussichten ist diese krasse Diskrepanz wohl kaum zu erklären. Womit dann?

Ulrich Reinhardt, wissenschaftlicher Leiter der „Stiftung für Zukunftsfragen“, die die Umfrage gemacht hat, antwortet mit einem einzigen Wort: Angst. Die Deutschen haben Angst, ihre Unabhängigkeit zu verlieren, Angst, nicht genug Geld zu verdienen, Angst, den falschen Zeitpunkt zu wählen, Angst, die Karriere zu vernachlässigen oder Angst, den falschen Partner zu haben. „Angst ist der Schlüsselbegriff für die Entscheidung gegen Kinder“, sagt Reinhardt.  

Aber warum haben ausgerechnet die Deutschen besondere Angst um die angeblich unsichere Zukunft ihrer Kinder, während diese in anderen westlichen Ländern, deren wirtschaftliche Zukunft sehr viel düsterer erscheint, viel weniger ausgeprägt ist? Warum fürchten sie sich, wie Umfragen in Europa zeigen, mehr vor den inflationären Folgen der Krise als Südeuropäer, deren Aussichten bei Licht betrachtet sehr viel schlechter sind als die der Deutschen?

Die Vorfahren der Deutschen galten einmal als besonders mutig und verwegen. Der „furor teutonicus“ war unter den Römern ein geflügeltes Wort. Doch vom wilden Ingrimm ist nicht mehr viel übrig bei den Nachfahren der Germanen. Im Gegenteil. Heute, in der längsten Friedensphase ihrer Geschichte und obwohl sie sich einen Kümmerstaat geschaffen haben, der bei fast jedem Lebensrisiko fürsorglich einspringt, sind die Deutschen ein Volk der Ängstlichen.

Man begegnet der Angst und dem Reden darüber überall hierzulande. Zum Beispiel beim „Informationsdienst Wissenschaft“: An einem einzigen Tag, dem 14. Mai, gehen drei Meldungen ein, in denen das Wort Angst im Vorspann vier, fünf, sechs mal vorkommt: Jedes 10. Kind in Deutschland leide unter einer Angststörung, meinen Marburger Verhaltenstherapeuten, Angst steckt uns in den Genen, behaupten Würzburger Psychiater, und schließlich suchen Frankfurter Psychologen nach Probanden für ein Projekt zur Untersuchung von „sozialen Ängsten“ bei Jugendlichen.

Im ZDF klärt eine neunteilige Serie über alle möglichen Facetten und Spielarten der Angst auf, unter anderem die „Angst vor der Verantwortung“, die nichts anderes als die Angst vorm Kinderkriegen ist. Eine Legion von Ratgebern will den Menschen weismachen, wie man „angstfrei“ leben kann (311 000 google-Ergebnisse). Und auf dem Cover von Dirk Kurbjuweits aktuellem Roman steht Angst gleich fünfmal hintereinander. Angst sells. In Deutschland zumindest.

Sorgen vor Inflation sind keine Angst

Mutter mit Kind im zersörten Berlin, Mai 1945 Quelle: dpa

Furcht vor konkreten Bedrohungen ist durchaus gesund. Die Sorge um die Währung zum Beispiel ist berechtigt. Die auch nach drei oder mehr Generationen zumindest unterschwellig noch nachwirkende Erfahrung des Verlustes aller Ersparnisse in der Inflation von 1923 und der Währungsreform 1948 macht die Deutschen hierfür sensibler als Südeuropäer, die sich über viele Jahrzehnte an eine schleichende Entwertung gewöhnten. Die Deutschen haben nicht wirklich Angst vor der Inflation, sie fürchten sie. Mit gutem Grund verlangen sie von ihren Politikern, davor bewahrt zu werden.

Angst dagegen ist eine obskure Befindlichkeit, die von der Zukunft nichts Gutes erwarten lässt. Angst ist der Verlust des Lebensmutes, kaschiert durch die Flucht aus der Verantwortung ins hier und jetzt der Spaßgesellschaft. Sie ist für den einzelnen und für die Gesellschaft eine ungeheure Last. Im schlimmsten Fall, wenn Menschen deswegen bewusst auf Kinder verzichten, führt sie dorthin, wo sie herstammt: ins Nichts.

Dieses diffuse Gefühl wird auch im Ausland für so typisch deutsch gehalten, dass es im Englischen mittlerweile als „German Angst“ bekannt ist. Sogar von einer „German disease“, einer deutschen Krankheit ist oft die Rede. Aber warum ist die Angst deutsch?

Gabriele Baring,  Psychotherapeutin und Ehefrau des bekannten Historikers Arnulf Baring, ist bei ihren Patienten immer wieder auf dieselben tieferen Ursachen gestoßen. Die verdrängten Traumata der Erlebnisgeneration des Zweiten Weltkrieges wirkten in den Kindern und Enkeln fort, ist sie überzeugt. „Wir Deutschen stehen psychisch auf brüchigem Boden. Deshalb ängstigen uns konkrete Bedrohungen weit intensiver, als es bei anderen Nationen der Fall ist“, schreibt Baring in ihrem Buch „Die geheimen Ängste der Deutschen“. Anders als in anderen Nationen sei in Deutschland nach dem Krieg über das eigene Leid weitgehend geschwiegen worden.

Baring schreibt auch über ihre eigene Familiengeschichte: Eine Mutter, deren erster Mann drei Wochen nach der Hochzeitsnacht fiel, die nach dem Krieg mit einem beinamputierten Kriegsheimkehrer – Barings Vater – verheiratet war, der auf Krücken studierte und sein Leben lang unter Phantomschmerzen litt. Und beide finden keine Worte für ihre Leiden.

Ein Symptom ungelebter Trauer

Charlotte (Miriam Stein), Lilija (Christiane Paul) machen eine Pause. Quelle: ZDF David/Slama

In der Wiederaufbaugesellschaft der Nachkriegsjahre blieb keine Zeit zu trauern, der Blick war starr nach vorne gerichtet. Männer, die unsägliches Leid erlitten und oft auch unsägliches verbrochen hatten, mussten ebenso funktionieren, wie verwitwete Mütter, die ihre Kinder alleine großziehen mussten. Das Wirtschaftswunder war kein Wunder, sondern Ergebnis einer extremen kollektiven Anstrengung von eigentlich überforderten Menschen. Sprachlosen Eltern, die gegenüber ihren Kindern oft schwiegen, auch aus Scham, angesichts der überwältigenden Schuld am Leid der Opfer deutscher Taten. Und Kindern, die die Sprachlosigkeit später brachen, indem sie schwere Vorwürfe erhoben, die keinen Platz für die Leiden der Eltern ließen. „Die Angst der Deutschen ist ein Symptom ungelebter Trauer“, sagt Baring.

Hier ist die Rentenangst am größten
Platz 10Von den Menschen, die im Ernährungswesen tätig sind, also zum Beispiel Bäcker, Diätassistenten oder Fitnessberater, sorgen sich 41 Prozent besonders stark um ihre finanzielle Zukunft. Quelle: dapd
Platz 9Bei Bank- und Versicherungsfachleuten glauben 42 Prozent, dass ihre gesetzliche Rente später nicht zum Leben reichen wird. Quelle: Fotolia
Platz 843 Prozent der Bürger, die in sozialen Berufen beschäftigt sind, also zum Beispiel Pädagogen oder Sozialarbeiter, fürchten um ihre Versorgung im Alter. Quelle: dpa
Platz 7Von den Beschäftigten in der Metallkonstruktion (z.B. Industriemechaniker) oder Installation (z.B. Heizungsinstallateur) glauben 45 Prozent nicht, dass ihre Rente später ausreichen wird. Quelle: dapd
Platz 6Wer als Hilfsarbeiter, also etwa als Kellner, tätig ist, sorgt sich oft um seine Zukunft; 46 Prozent fürchten um ihre finanzielle Absicherung im Rentenalter. Quelle: AP
Platz 5Ebenfalls 46 Prozent der Beschäftigten im Gesundheitsdienst, also etwa Kranken- oder Altenpfleger, sorgen sich um ihre gesetzliche Rente. Quelle: dpa
Platz 4Von den Bürgern, die in Hotels, Gaststätten, oder in der Hauswirtschaft arbeiten, glauben 49 Prozent nicht an eine ausreichende gesetzliche Altersvorsorge. Quelle: AP

Erst in den letzten Jahren sind die über die Erlebnisgeneration hinausreichenden psychischen Nachwirkungen des Krieges thematisiert worden. Die Journalistin Sabine Bode hat sie in mehreren Büchern bis in die Enkelgeneration der in den 1960er Jahren geborenen Deutschen verfolgt. Sie hat bei dieser Nach-68er-Generation, die vordergründig nichts mehr mit dem Krieg zu tun hatte, eine Diskrepanz festgestellt zwischen dem Gefühl, mit Informationen über das Dritte Reich in der Schule und im Fernsehen vollgestopft worden zu sein und gleichzeitig wenig über die Erlebnisse der eigenen Eltern oder Großeltern im Krieg zu wissen. Vor allem die Nachkommen von Flüchtlingen berichten über ein unheilschwangeres aber fast nie offen angesprochenes Leid, das die Stimmung in den Familien belastete.

Das Unbekannte aber ist die eigentliche Quelle von Ängsten. Und das Verschweigen von Leiden verhindert Erlösung. Psychologen sprechen vom Amfortas-Syndrom: Als Parsifal vor dem todkranken König Amfortas steht, wagt er zunächst nicht, die Frage zu stellen, die Amfortas und ihn selbst retten würde: „Woran leidest Du?“  

Der kürzlich im Fernsehen gezeigten Dreiteilers „Unsere Mütter, unsere Väter“ ist so etwas wie eine verspätete Amfortas-Frage. Sein Erfolg zeigt das enorme bisher verdrängte Bedürfnis der Nachgeborenen, nicht mehr allein die Schuld, sondern auch das große Leid der Eltern und Großeltern wahrzunehmen.

Das Rezept gegen die deutsche Krankheit kann nur heißen: Reden, reden, reden. Mit den Eltern und den Großeltern der Erlebnisgeneration, falls die noch leben. Die Wirkung ist heilsam und befreiend. Nicht nur für die letzten Überlebenden des großen Grauens, sondern vor allem für die Nachgeborenen, die unter dem Bann des verdrängten Leids stehen.

Die Herkunftsfamilie, die Vorfahren sind unser Schicksal. Sie anzunehmen und zu lieben, so wie sie sind und waren - und ohne ihre Schuld zu vergessen – ist wohl der einzige Weg, die deutsche Angst zu überwinden.

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