Gestresste Gesellschaft Wenn Last Minute zum Alltagsprinzip wird

Smartphones ermöglichen ein Leben nach dem Last-Minute-Prinzip. Doch der Verzicht aufs Planen stresst den Einzelnen - und die ganze Gesellschaft.

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Ruhig bleiben alleine reicht nicht mehr. Denn auch der Stress anderer kann sich auf uns übertragen. Quelle: dpa

Wer im vergangenen Jahrhundert aufwuchs, kann sich vielleicht noch an dieses Gefühl erinnern: Man war verabredet und merkte, dass man es nicht rechtzeitig zum vereinbarten Treffpunkt schaffte. Man steckte im verspäteten Zug oder im Stau – und wusste, da sitzt oder steht jemand und weiß nicht, wo ich stecke, wird allmählich sauer, glaubt, versetzt worden zu sein.

Doch die Gefahr besteht nicht mehr. Denn das verpasste Rendezvous ist ausgestorben. Aus der Welt geschafft durch die Erfindung und flächendeckende Ausbreitung des Mobiltelefons. „Ich komme 5 (10, 20, 30) Minuten später“ ist schon als Standard-SMS in jedem Mobiltelefon gespeichert. Wir können jeden Menschen stets auf dem Laufenden halten, wo wir sind – vorausgesetzt, beide haben ein Smartphone.

Fünf Tipps zur Stressbewältigung

Vom Aussterben bedroht ist aber auch das im Voraus verabredete Treffen selbst. Man muss sich nicht mal mehr im Vorhinein auf einen festen Ort einigen. „Dann telefonieren wir nochmal“, sagt man bis kurz vor dem Treffen.

Die allgegenwärtige Mobilkommunikation verführt zum Leben auf die letzte Minute. Sie lässt das verbindliche Planen des Alltags als unnötige Beschränkung der Möglichkeiten erscheinen. Warum noch einen festen Einkaufsnachmittag planen, wenn man jederzeit bei Zalando shoppen kann? Wieso sich Gedanken über das nächste Abendessen machen, wenn man mit der richtigen App für jeden Geschmack das passende Schnellrezept findet?

Total verändert hat die völlig losgelöste Kommunikationsmöglichkeit im Verbund mit billigen Fortbewegungsmitteln unser Reisen. Eine Zugfahrt von Unna nach Saarbrücken zu den Enkelkindern wollte noch in den 1980er Jahren Wochen im Voraus geplant werden. Man ging an den Schalter, ließ sich beraten, wo man am besten umsteigt. Das Gepäck gab man bereits Tage zuvor auf.

Diese Berufe machen depressiv
MontagsbluesBesonders montags fällt es uns schwer, etwas positives am Arbeiten zu finden. Laut einer amerikanischen Studie dauert es im Durchschnitt zwei Stunden und 16 Minuten, bis wir wieder im Arbeitsalltag angekommen sind. Bei Menschen ab dem 45. Lebensjahr dauert es sogar noch zwölf Minuten länger. Doch es gibt nicht nur den Montagsblues: Manche Berufsgruppen laufen besonders stark Gefahr, an einer echten Depression zu erkranken. Allein in Deutschland haben nach Expertenschätzungen rund vier Millionen Menschen eine Depression, die behandelt werden müsste. Doch nur 20 bis 25 Prozent der Betroffenen erhielten eine ausreichende Therapie, sagte Detlef Dietrich, Koordinator des Europäischen Depressionstages. Quelle: dpa
Journalisten und AutorenDie Studie der medizinischen Universität von Cincinnati beinhaltet Daten von etwa 215.000 erwerbstätigen Erwachsenen im US-Bundesstaat Pennsylvania. Die Forscher um den Psychiater Lawson Wulsin interessierte vor allem, in welchen Jobs Depressionen überdurchschnittlich oft auftreten und welche Arbeitskriterien dafür verantwortlich sind. Den Anfang der Top-10-Depressions-Jobs macht die Branche der Journalisten, Autoren und Verleger. Laut der Studie sollen hier etwa 12,4 Prozent der Berufstätigen mit Depressionen zu kämpfen haben. Quelle: dpa
HändlerDer Begriff „Depression“ ist in der Studie klar definiert. Als depressiv zählt, wer mindestens zwei Mal während des Untersuchungszeitraums (2001 bis 2005) krankheitsspezifische, medizinische Hilferufe aufgrund von „größeren depressiven Störungen“ gebraucht hat. Händler aller Art, sowohl für Waren- als auch für Wertpapiere, gelten demnach ebenfalls als überdurchschnittlich depressiv. Platz neun: 12,6 Prozent. Quelle: dpa
Parteien, Vereine & Co.Neben den Hilferufen nach medizinischer Fürsorge flossen noch andere Daten in die Studie ein. Die Forscher beachteten außerdem Informationen wie Alter, Geschlecht, persönliche Gesundheitsvorsorge-Kosten oder körperliche Anstrengung bei der Arbeit. Angestellte in „Membership Organisations“, also beispielsweise politischen Parteien, Gewerkschaften oder Vereinen, belegen mit über 13 Prozent den achten Platz im Stress-Ranking.
UmweltschutzDer Kampf für die Umwelt und gegen Lärm, Verschmutzung und Urbanisierung ist oft nicht nur frustrierend, sondern auch stressig. Knapp 13,2 Prozent der beschäftigten Erwachsenen in dem Sektor gelten laut den Kriterien der Forscher als depressiv. In den USA betrifft das vor allem Beamte, denn die Hauptakteure im Umweltschutz sind staatliche Organisationen und Kommissionen. Quelle: AP
JuristenAls mindestens genauso gefährdet gelten Juristen. Von insgesamt 55 untersuchten Gewerben belegten Anwälte und Rechtsberater den sechsten Platz im Top-Stress-Ranking: Rund 13,3 Prozent der Juristen in Pennsylvania gelten für die Forscher der medizinischen Universität Cincinnati depressiv. Quelle: dpa
PersonaldienstleisterAuf Rang fünf liegen Mitarbeiter im Dienstleistungsbereich. Deren „Ressource“ ist der Mensch – und der ist anfällig: Denn der „Personal Service“ in Pennsylvania hat nach Lawson Wulsin und Co. eine Depressionsrate von knapp über 14 Prozent. Und nicht nur Kopf und Psyche sind von der Krankheit betroffen, sondern offenbar auch der Körper: Schon seit Jahren forscht Wulsin auf diesem Gebiet und geht von einer engen Verbindung von Depression und Herzkrankheiten aus. Gefährdeter als Menschen aus dem Dienstleistungsbereich sind nur vier andere Jobgruppen.

Heute sucht man dank Bahn-App im Taxi die nächste Verbindung. Und wer schmiert noch Butterbrote für die lange Reise?

Familien diskutierten spätestens in den Weihnachtsferien, ob man wieder auf Norderney oder doch mal in Rimini buchen solle. Heute sind Fuerteventura, Hurghada und die Malediven dank lastminute.com nur einen Smartphone-Wisch voneinander entfernt – und noch am Tag des Abflugs kann man sich entscheiden, lieber doch im Indischen Ozean als im Mittelmeer zu plantschen.

In Großbritannien, so ergab eine Umfrage, die wohl in Deutschland nicht viel anders ausfiele, buchten 44 Prozent der Befragten ihre letzte Urlaubsreise spontan. Und stolz verkündet lastminute-CEO Matthew Crummack, dass es immer mehr mobile Hotelbuchungen nach 18 Uhr für denselben Abend gäbe.

Ohne Plan gibt's Stress

Ist das nicht toll? Diese Freiheit, stets alles noch schnell umwerfen zu können, ein Leben ganz spontan im Moment, befreit von jedem Plan!

Vielleicht. Aber dauernde Planlosigkeit ist auch extrem anstrengend und nervenzehrend.

Denn ein Plan ist nicht nur eine Fessel, sondern auch eine Stütze: Er verschafft einen Erwartungshorizont. Während sich heute viele Menschen kaum noch regelmäßig zu einem gemeinsamen Essen versammeln, gab es in den vormobilen Generationen Hausfrauen, die am Montag planten, was sie am nächsten Sonntag kochen würden.

So unterschiedlich nehmen Männer und Frauen ihre Arbeitswelt wahr

Hinter solcher Planmäßigkeit steht das Bedürfnis, wenn schon nicht nach absoluter Sicherheit, so doch immerhin nach der einigermaßen großen Wahrscheinlichkeit, dass das Leben in der nahen Zukunft halbwegs in geordneten Bahnen verlaufen wird. Und dass eben gerade nicht unablässig zwischen verschiedenen Optionen entschieden werden muss.

Ohne Erwartungshorizont wird das Leben auf Dauer unruhig und anstrengend. An Kindern sieht man das besonders deutlich: Kinder, die ohne ritualisierte Abläufe dauernd entscheiden dürfen, was sie als nächstes tun wollen, werden schnell unruhig, unzufrieden, unausstehlich.  

Erwachsene haben sich – meistens – besser im Griff. Sie quengeln nicht sofort los. Aber die psychischen Wirkungen dauernder Spontaneität dürften bei ihnen ähnlich sein.  

Tipps zum richtigen Entspannen

Und schließlich: Als Massenphänomen betrifft das Last-Minute-Leben nicht nur jeden einzelnen mobilen Planlosen. Wenn Planlosigkeit und dauernder spontaner Entscheidungszwang zum Lebensmodell wird, hat das gesellschaftliche Folgen. Ein kollektiver Erwartungshorizont, also ein möglichst verlässlicher, gemeinsamer Plan für die nächste Zukunft, an den sich alle halten müssen, ist Bedingung dafür, dass so etwas wie eine Gesellschaft überhaupt existiert. Regelmäßigkeiten, die dauernde spontane Entscheidungen überflüssig machen, waren für den Soziologen Pierre Bourdieu eine Hauptvoraussetzung jeder Gesellschaft.

Eine Menge von Menschen, die dauernd kurzfristige Entscheidungen treffen, die dauernd improvisieren (müssen oder wollen) und sich nicht mehr darauf verlassen können, dass morgen gilt, was gestern galt, ist keine Gesellschaft mehr - sondern nur noch eine unberechenbare, unzuverlässige Menschenmasse.

Soziologen nennen diesen Prozess der Störung oder Auflösung gesellschaftlicher Ordnung „Anomie“. Émile Durckheim behauptete vor 120 Jahren, dass solch eine Anomie die Menschen seelisch krank mache, Angst hervorrufe – und sogar zum Selbstmord führen könne.

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