Großbritannien Die Briten sind in Deutschland verliebt

Auf einmal lieben die Briten alles Deutsche. Warum neuerdings nicht nur unsere Wirtschaftskraft in Großbritannien bewundert wird, sondern auch Currywurst, Christkindlmärkte und deutsche Discounter angesagt sind.

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Leute vor Herman ze German Quelle: Greg Funnell

Immer der Nase nach! Wer in London auf der Villiers Street in Richtung Themse geht, nimmt den unverwechselbaren Duft erst schwach, dann immer deutlicher wahr: Es riecht nach... Currywurst.

Ein paar Schritte weiter, und man sieht den Schriftzug „Herman ze German“. Es ist Mittagszeit, drinnen stehen die Kunden – ganz britisch diszipliniert – Schlange. Lena aus Duisburg bedient. Bockwurst mit Brötchen gibt’s für 4,45 Pfund, Currywurst mit Pommes für 5,95 Pfund; eine Tafel empfiehlt der figurbewussten Kundin („No Carbs, Fräulein“): Wurst mit Salat.

Die drei Biertische sind voll besetzt, viele Engländer, ein Franzose und ein Deutscher mampfen die Ware von Metzger „Fritz“ aus Steinen bei Lörrach, der eigentlich Karl-Friedrich Hug heißt.

Deutschland ist hip

„Herman ze German“ liegt voll im Trend: Am 9. Oktober eröffneten die beiden deutschen Gründer Florian Frey, 34, und Azadeh Falakshahi, 31, in der Londoner Charlotte Street ihr drittes Lokal, ein viertes im Szeneviertel Shoreditch soll nächstes Jahr folgen. „Unser Erfolg zeigt, wie cool und hip Deutschland ist. Bockwurst und Berlin ist bei den Briten total angesagt“, sagt Frey, ein ehemaliger Friseur, der mit seinem Laptop im Eck seines neu eröffneten Restaurants sitzt.

An der Wand hängen alte Fleischwölfe und im Hintergrund dudeln Songs von Falco und Peter Schilling („Völlig losgelöst von der Erde / schwebt das Raumschiff, völlig schwerelos“) – die Neue Deutsche Welle aus den Siebziger- und Achtzigerjahren lässt grüßen.

In diesen Disziplinen sind die Deutschen Weltmeister
FrisierenZugegeben, es hat nichts mit Sport zu tun, aber wir Deutschen sind Friseur-Weltmeister. Bei dem im Mai in Frankfurt am Main ausgetragenen OMC Hairworld World Cup 2014 holte das Team des Zentralverbandes des Deutschen Friseurhandwerks gleich in drei Kategorien die meisten Punkte und brachte so den Titel nach Hause. Die WM der Friseure gibt es übrigens schon seit 1949. Damals hieß der Wettbewerb allerdings noch Confédération Internationale de la Coiffure und fand in Paris statt. Quelle: dpa
RettungsschwimmenDie Deutschen sind im Rettungsschwimmen nicht nur Europa-, sondern auch Weltmeister. Zuletzt holten die Deutschen vor ein paar Wochen bei den World Military Championships im Schwimmen und Rettungsschwimmen den Titel. Mitte Juni gewannen sowohl das Team der Frauen als auch der Männer Gold in den Disziplinen Schwimmen, Paddeln und Kajak fahren. Quelle: ZB
BasketballWer gedacht hat, beim Basketball haben die Amerikaner die Nase vorn, der irrt sich. Zumindest was die Altersgruppe ü45 anbelangt. Im Juli letzten Jahres wurde die deutsche Frauenmannschaft in dieser Altersklasse Weltmeister und auch die Männer siegten bei der Senioren-Basketball-WM im griechischen Thessaloniki. Allerdings in der Altersgruppe ü55. Quelle: AP
OperierenDie Deutschen sind Weltmeister im Operieren: Nirgendwo sonst landen so viele Patienten unter dem Messer wie hier. Binnen fünf Jahren hat sich allein die Zahl der Wirbelsäulen-Operationen in Deutschland verdoppelt, wie aktuelle Zahlen zeigen. Quelle: dpa
GlobalisierungDeutschland profitiert im internationalen Vergleich am stärksten von der Globalisierung. Das ergab eine Untersuchung des McKinsey Global Insitute. Der Country Connectedness Index des Beratungsinstituts wird anhand von Exportzahlen, Kommunikationswegen und Vernetzung von Unternehmen gebildet. Demnach ist Deutschland das weltweit am stärksten vernetzte Land - noch vor den USA, Singapur und Großbritannien. Quelle: dpa
ObstsaftDer Pokal für diese Leistung sähe sicher ungewöhnlich aus, aber die Deutschen sind Weltmeister im Saft trinken. Im vergangenen Jahr hat jeder Deutsche rund 33 Liter Saft getrunken. Quelle: ZB
LogistikDie Weltbank hat in Dutzenden von Ländern geprüft, wie es um die Pünktlichkeit und Effizienz der Logistik steht. Das Ergebnis: Die Deutschen sind nicht nur Export- sondern auch Logistik-Weltmeister. Insgesamt verliehen die befragten Logistikunternehmen Deutschland 4,12 Punkte. Damit hat sich die Bundesrepublik nicht nur verbessert (Rang vier im Jahr 2012), sondern sich auch gegen 159 andere Länder durchgesetzt. Quelle: dpa

Von Nazi-Witzen zu Kunst

Damals mussten Deutsche in Großbritannien noch krude Nazi-Witze ertragen, wurden im Fernsehen als „Fritz“ porträtiert, der sich vor allem im Stechschritt fortbewegt, und John Cleese alias Basil Fawlty aus der TV-Serie Fawlty Towers hatte mit seinem Spruch „Don’t mention the war“ alle Lacher auf seiner Seite.

Noch am 24. Juni 1996 – Deutschland trat im Halbfinale der Fußball-EM gegen Gastgeber England an – titelte der „Daily Mirror“: „ACHTUNG! SURRENDER! For you Fritz, ze Euro 96 Championship is over!“

Wie sich die Zeiten ändern: Heute ist Deutschland en vogue, nicht nur wegen des bevorstehenden Mauerfall-Jubiläums. Das British Museum zeigt seit dem 16. Oktober die Ausstellung „Germany – Memories of a Nation“, die 600 Jahre deutscher Geschichte dokumentiert, parallel strahlt die BBC eine Serie mit Museumsdirektor Neil MacGregor aus, und das Migration Museum befasst sich mit den deutschen Einwanderern in Großbritannien.

Doch damit nicht genug: Die Tate Modern, eines der wichtigsten Museen für Gegenwartskunst, präsentiert eine Werkschau des Malers Sigmar Polke, die Londoner Marian Goodman Gallery stellt Gerhard Richter aus, und die Royal Academy widmet Anselm Kiefer eine Retrospektive.

Ein Leitfaden, typisch deutsch zu werden
Adam Fletcher hat in Großbritannien und Neuseeland gelebt, ein Unternehmen in Leipzig gegründet und lebt und arbeitet jetzt in Berlin. Seine Erfahrungen in Deutschland haben ihn dazu veranlasst, einen Leitfaden zu schreiben, wie Ausländer typische Deutsche werden. So hart es sei, schreibt Fletcher, um ein typischer Deutscher zu werden, müsse man deutsch lernen. Die Worte an sich seien gar nicht einmal so schwer, gerade wegen der vielen Parallelen zum Englischen. Und letztlich mache es auch stolz "Schwangerschaftsverhütungsmittel" sagen zu können. Die Grammatik allerdings sei "impenetrable nonsense", aber es führe nun mal kein Weg an ihr vorbei. Quelle: AP
Wer typisch deutsch sein wolle, müsse auch deutsche Gerichte essen, so Fletcher. Er warnt allerdings auch davor, wie unkreativ die deutsche Küche sei. Wurst schmecke eher langweilig und ohne Fleisch gehe auf deutschen Tellern nichts. "Hier Vegetarier zu sein, ist wahrscheinlich genauso lustig, wie im Zoo nichts sehen zu können", schreibt er. Besonders verwirrend sei für Ausländer die Spargel-Saison, in der das ganze Land völlig durchdrehe und sich nahezu ausschließlich von Spargel ernähre. Daran müsse sich ein zukünftiger Musterdeutscher gewöhnen - und natürlich mitmachen. Quelle: dpa/dpaweb
Besonders wichtiger Bestandteil des Germanismus seien die drei P: Planning, Preparation, Process. Ein typischer Deutscher sei vorbereitet auf alles, was passieren könne und plane alles bis ins kleinste Detail: vom Tagesablauf bis zur Anordnung der Schuhe im Regal. To-do-Listen helfen dem Deutschen dabei nicht nur, es mache ihn auch glücklich, diese abzuhaken. Quelle: Fotolia
Besonders wichtig sei es, sich Versicherungen zuzulegen gegen all die Dinge, die man nicht planen kann: Versicherungen gegen Erdbeben, Beinbruch und Haarausfall, gegen Schäden durch den falschen Kraftstoff und so weiter. Fletcher ist sich sicher, würde jemand eine Versicherung erfinden, die immer dann greift, wenn man grade nicht die richtige Versicherung hat (insurance-insurance), würden 80 Millionen Deutsche vor lauter Glück tot umfallen. Quelle: dpa
Wissen ist Macht: In England bekommt der das hübsche Mädchen aus dem Club, der am meisten trinkt, ohne sich auf die Schuhe zu kotzen. "In Deutschland bekommt der das Mädchen, der am meisten über Philosophie weiß", schreibt Fletcher. Dementsprechend streben die Deutschen nach Fortbildungen, Qualifikationen und Titeln. Der Dr. vor dem Namen sei deutlich wichtiger als das, was die Person im Kopf habe, weshalb jeder sich möglichst viele Zusatzqualifikationen zulegen sollte. Doch Vorsicht: Wer den Bachelor of Arts in Theaterwissenschaften gemacht hat, bekäme ungefähr so viel Anerkennung wie jemand, der es geschafft hat, sich ordentlich anzuziehen. Quelle: Fotolia
Ganz wichtig seien vor allem Hausschuhe, schreibt Fletcher. "Sie sind Voraussetzung, um richtig deutsch zu sein." Die Begründung, warum Deutsche so auf ihre Puschen schwören, sei vor allem eines: praktisch. Was ebenfalls furchtbar deutsch sei. Quelle: dpa/dpaweb
In Deutschland finden die besten Partys in der Küche statt, bei den Briten ist es dagegen das Wohnzimmer. Fletcher nennt die Küche einen funktionalen Raum, in dem man Essen zubereitet. Wer allerdings ein richtiger Deutscher werden wolle, müsse die Küche unbedingt zum Mittelpunkt seiner Wohnung machen. Außerdem sei besonders am Wochenende ein ausgedehntes Frühstück Pflicht für einen typischen Deutschen. Dazu müsse der ganze Inhalt des Kühlschranks auf dem Küchentisch aufgefahren werden. Quelle: Blumenbüro Holland/dpa/gms

Edelküchen, Autos, Birkenstock

„Deutsche Nachkriegskunst begann schon in den frühen Neunzigern internationale Popularität zu gewinnen“, so Jussi Pylkkanen, Chairman des Londoner Auktionshauses Christie’s. „Wir haben den Leuten die Augen für die deutsche Kunst geöffnet“, sagt er stolz.

Der Direktor der Tate Modern, Chris Dercon, meint: „Deutschland gilt nicht mehr als Land der großen Ideen, sondern der großen Bilder. Man braucht keine Angst mehr vor Deutschland zu haben.“ Für Dercon, einen Belgier, der das Haus der Kunst in München geleitet hat, spielt auch der zunehmende politische Einfluss Deutschlands eine Rolle: „Deutschland ist das Epizentrum in Europa, ihm kommt eine Schlüsselrolle zu – auch im Verhältnis zu den USA und zu Russland.“

Doch die neue Liebe der Briten für alles Deutsche geht weit über das rein Kulturelle hinaus: Da ist der Snob-Appeal deutscher Edelküchen, die sich bei wohlhabenden Briten großen Zuspruchs erfreuen, und die Bewunderung für die technische Perfektion deutscher Autos, die – wie der Mini, der Bentley und der Rolls-Royce – zum Teil in englischer Verkleidung daherkommen.

Selbst die Biedersandale Birkenstock erlebte diesen Sommer eine modische Renaissance. Berlin gehört zu den Top-Reisezielen junger Briten, Ältere suchen dort die Nostalgie des Kalten Kriegs. In der Adventszeit reisen die Briten gern nach Nürnberg, Würzburg und Köln, sie lieben Glühwein und Stollen, die deutsch-englische Firma Xmas Markets hat die Christkindlmärkte sogar nach Großbritannien geholt. Es gibt Weihnachtsmärkte in Birmingham und Manchester und im Londoner Hyde Park das „Winter Wonderland“.

Was die Briten an der EU stört
Mittelstand könnte beim Brexit-Referendum am 23. Juni den Ausschlag geben Quelle: dpa, Montage
Nationale IdentitätAls ehemalige Weltmacht ist Großbritanniens Politik noch immer auf Führung ausgelegt. London ist gewohnt, die Linie vorzugeben, statt sich mühsam auf die Suche nach Kompromissen zu begeben. „London denkt viel mehr global als europäisch“, sagt Katinka Barysch, Chefökonomin beim Centre for European Reform in London. Die Angst, von EU-Partnern aus dem Süden Europas noch tiefer in die ohnehin schon tiefe Krise gezogen zu werden, schürt zusätzliche Aversionen. Quelle: dpa
Finanztransaktionssteuer und Co.Die Londoner City ist trotz massiven Schrumpfkurses noch immer die Lebensader der britischen Wirtschaft. Großbritannien fühlt sich von Regulierungen, die in Brüssel ersonnen wurden, aber die City treffen, regelrecht bedroht. „Regulierungen etwa für Hedgefonds oder die Finanztransaktionssteuer treffen London viel mehr als jeden anderen in Europa“, sagt Barysch. Allerdings hatte die Londoner City in der Finanzkrise auch mehr Schaden angerichtet als andere Finanzplätze. Quelle: dpa
Regulierungen des ArbeitsmarktsGroßbritannien ist eines der am meisten deregulierten Länder Europas. Strenge Auflagen aus Brüssel, etwa bei Arbeitszeitvorgaben, stoßen auf wenig Verständnis auf der Insel. „Lasst uns so hart arbeiten wie wir wollen“, heißt es aus konservativen Kreisen. Quelle: dapd
EU-BürokratieDie Euroskeptiker unter den Briten halten die Bürokratie in Brüssel für ein wesentliches Wachstumshemmnis. Anti-Europäer in London glauben, dass Großbritannien bilaterale Handelsabkommen mit aufstrebenden Handelspartnern in aller Welt viel schneller aushandeln könne als der Block der 27. Die Euroskeptiker fordern auch, dass der Sitz des Europaparlaments in Straßburg (hier im Bild) abgeschafft wird und die Abgeordneten nur noch in Brüssel tagen. Quelle: dpa
MedienDie britische Presse ist fast durchgehend europafeindlich und prägt das Bild der EU auf der Insel. Das hat auch politische Wirkung. „Ich muss meinen Kollegen in Brüssel dauernd sagen, sie sollen nicht den 'Daily Express' lesen“, zitiert die „Financial Times“ einen britischen Minister. Quelle: dpa

Unaufgeregter Führungsstil von Angela Merkel

Und dann ist da noch der Sport, ein zwiespältiges Thema. „Two World Wars and One World Cup“ heißt der Fußball-Song, mit dem die Engländer gern an ihren WM-Sieg von 1966 erinnern. Doch dieses Jahr, bei der WM in Brasilien, drückten nach dem Ausscheiden der englischen Nationalmannschaft auch Briten den Deutschen die Daumen.

Deutsche Spieler in britischen Clubs sind beliebt: So verpassten die Fans des FC Arsenal Verteidiger Per Mertesacker, angelehnt an das Kinderbuch „Big friendly Giant“, den Spitznamen „Big Fucking German“. Und das ist durchaus freundlich gemeint.

Die Bundesrepublik ist heute für viele Briten ein Vorbild, auf wirtschaftlichem Gebiet, aber auch in der Politik. Nicht zuletzt aufgrund des unaufgeregten Führungsstils von Bundeskanzlerin Angela Merkel. „Deutschland ist ein sehr friedlicher, unaufdringlicher Ort – es fehlt an Pomp und dem aufgeblasenen militärischen Getue, das unseren eigenen Staat entstellt“, schrieb jüngst der Schriftsteller Will Self im „Guardian“.

Der ehemalige Vorstands- und Verwaltungsratsvorsitzende der britischen Großbank HSBC, Lord Stephen Green of Hurstpierpoint, der Handelsminister in der Regierung David Camerons war, hat soeben ein Buch mit dem Titel „Reluctant Meister“ veröffentlicht, in dem er die neue politische Identität Deutschlands vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte analysiert.

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