Hirnforscher Gerhard Roth Wer sich nicht entscheiden kann, sollte schlafen gehen

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Erst schlafen, dann entscheiden

Parteimitglieder stimmen am 25.01.2014 während des Bundesparteitages der Alternative für Deutschland (AfD) zur Aufstellung der Europawahl-Liste in der Frankenstolz Arena in Aschaffenburg (Bayern) mit Stimmkarten ab. Quelle: dpa

Komplexe Probleme ohne unmittelbaren Zeitdruck – also die weitaus meisten in Politik und Unternehmen -  werden, so Roth, am besten mittels aufgeschobener Entscheidungen auf der Basis intuitiv vorliegender Erfahrungen gelöst. Nicht das energieintensive Arbeitsgedächtnis des logischen Kombinierers ist hier gefragt, sondern das „emotionale Erfahrungsgedächtnis“. Dieser unfassbar umfangreiche Speicher aus 500 Billionen Nervenverbindungen ist der mit den Erfahrungen des Lebens wachsende Schatz von Bewertungen, aus dem wir uns bei anstehenden Entscheidungen – meist unbewusst – intuitiv bedienen. Meist sind das nicht einmalige Erfahrungen, sondern solche, die wiederholt gemacht werden, um sich dadurch fest im emotionalen Erfahrungsgedächtnis zu verankern.

Wie das funktioniert, kann man bei erfolgreichen politischen Verhandlungen, zum Beispiel den Rettungsaktionen der Europäischen Union verfolgen. Die laufen in der Regel in vier Phasen ab: Zunächst sind die so genannten Experten gefragt, also Praktiker in den Ministerien und Ratgeber der politischen Entscheider. Ihre Aufgabe ist es, vor dem eigentlichen Gipfel die an und für sich kaum beschreibbare Komplexität des Problems auf eine kleine Zahl klar definierbarer Alternativen zu reduzieren. In der folgenden Phase kommen die verhandlungsführenden Minister oder Regierungschefs zusammen und diskutieren im besten Fall ein bis zwei Stunden diese Alternativen. Und zwar am besten ohne zusätzliche Expertisen, die die Lage wieder komplizierter machen würden. Wenn den Verhandelnden an einer bestmöglichen Lösung gelegen ist, sollten sie sich, rät Roth, nach dieser Diskussion um 24 Stunden vertagen – und möglichst nicht aktiv an das Problem denken, sondern … schlafen.

In der entscheidenden Sitzung am nächsten Tag werden die Alternativen dann nur noch einmal kurz vorgestellt. Die Verhandlungsführer sollten dann ohne weitere Aussprache intuitiv entscheiden beziehungsweise abstimmen.

„Erfahrungen, die meisten davon unbewusst, sind der beste Ratgeber. Aber wir müssen lernen, sie zu nutzen“, sagt Roth. Etwas Unbewusstes lernen? Wie soll das gehen? „Indem wir Erfahrungen Zeit geben, zu reifen“, sagt Roth. Aufgeschobene intuitive Entscheidungen bei komplexen Problemen brauchen einen festen, aber nicht zu eng gefassten Zeitplan. Besonders wichtig, so Roth, ist die verhandlungsfreie Nacht vor der Entscheidung. Dieses Wissen steckt auch hinter der alten Tradition in Armeen und anderen Institutionen, Beschwerden erst am Tag nach dem Vorkommnis anzunehmen. Auch die auf den ersten Blick seltsame Einrichtung einer „zweiten Lesung“ bei Gesetzesvorhaben in Parlamenten geht auf die guten Erfahrungen mit dem „darüber schlafen“ zurück, glaubt Roth: „Schlaf ist ein großer Problemlöser.“

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