Angela Merkel hielt es wohl für ein schlagendes Argument, als sie vor einigen Jahren die Handlungen ihrer Regierung mehrfach als „alternativlos“ bezeichnete. Doch erstaunlicherweise kam dieses Wort nicht gut an. Es wurde sogar zum "Unwort des Jahres 2010" gekürt und ihr bis heute immer wieder vorgehalten. Dass es die eine, vernünftige Entscheidung gibt, die keine andere zulässt, das nahmen ihr die Menschen offenbar nicht ab. Warum eigentlich nicht?
Nicht nur Merkel, die Physikerin und Meisterin der Machtlogik, sondern der gesamte Mainstream des politischen Betriebs im postideologischen Zeitalter erhebt den Anspruch, ganz und gar rationale Lösungen für Probleme zu bieten. Jedes Gesetz, jede Institution lässt man „unabhängig“ evaluieren, um den Bürgern den Glauben an die reine, objektivierbare Vernunft der politischen Entscheidungen zu geben. Die Vernunft, also Wissen plus Logik, sind schließlich in einer so genannten Wissensgesellschaft die oberste Instanz menschlichen Handelns - statt des Glauben und Fühlens. Ist es also nicht klar, dass es auf der Basis unbestreitbaren Wissens und objektivierbarer Vernunft eigentlich nur eine alternativlose Lösung geben kann?
Wir wissen, was wir tun! Das ist die Botschaft der „alternativlosen“ Politik. Allein, sie kommt nicht so richtig an. Der Bürger ahnt, dass politische Entscheidungen von ebenso unlogischen und unbewussten Faktoren mitbestimmt sind wie seine eigenen. An die „rational choice theory“, die Theorie der vernünftige Wahl des Menschen und Marktteilnehmers, klammern sich nur noch unbelehrbare Ökonomen.
Nach dem Vortrag des Hirnforschers und Philosophen Gerhard Roth im Rahmen der „Quadriga Debatte“ des Stifterverbands in Berlin bleibt vom Glauben an die Möglichkeit und Erwünschtheit der ganz und gar rationalen Entscheidung nicht mehr viel übrig. Auch wenn man es nicht wahrhaben will: Die meisten Entscheidungen sind mit bewusstem Wissen und Logik nicht zu erklären. Sie werden in einem Hirnareal getroffen, das tief verborgen im limbischen System sitzt und dem Bewusstsein völlig verschlossen bleibt.
Eine traurige Botschaft? Sind wir also dem unbewussten Entscheider in den Untiefen unseres Gehirns völlig ausgeliefert?
Unter Stress kann man nicht denken
Nein, sagt Roth, wir können dem Unbewussten bewusst widersprechen. Bei Entscheidungen unter Zeitdruck sei das meist angeraten, so Roth, denn „affektiv-impulsive Bauchentscheidungen unter Druck sind schnell, aber sie bringen davon abgesehen nur Nachteile mit sich“. Manchmal sogar den Tod, wenn Männer dem Affekt - geblendet durch Testosteron – im Straßenverkehr folgen und kurz vor der Haarnadelkurve noch schnell überholen. Evolutionsbiologisch sind diese impulsiv-affektiven Reaktionen in Problemsituationen durch genetisch verankerte Überlebensstrategien in vorgeschichtlicher Zeit zu erklären: Der schnelle Entschluss zu sofortigem Angriff, Verteidigung, Flucht oder Erstarren waren im Überlebenskampf unserer Urahnen gegen wilde Tiere und menschliche Konkurrenten unumgänglich. Doch den Anforderungen der heutigen Zeit sind diese Steinzeit-Strategien nicht gewachsen. Der Homo Erectus in uns ist kein guter Ratgeber. Es sei denn in der glücklicherweise hierzulande höchst selten gewordenen existentiellen Situation eines Kampfes auf Leben und Tod.
Das andere Extrem des bewussten logisch-rationalen Denkens ist „die schwierigste Leistung des Gehirns“, sagt Roth. Die Meister in dieser Disziplin sind oft große Mathematiker oder Naturwissenschaftler. Die entscheidende Fähigkeit dazu leistet das Arbeitsgedächtnis, den „Flaschenhals des Gehirns“ nennt es Roth, denn da müssen aus allen Ecken und Enden des Gehirns die passenden Informationen verarbeitet werden – und es ist in seiner Geschwindigkeit und Kapazität sehr begrenzt. Denken ist daher ein extrem anstrengendes und kalorienverzehrendes Geschäft. „Wir können komplizierten Zusammenhangen nur etwa fünf Minuten am Stück folgen, dann ist das Gehirn ausgepowert“, erklärt Roth.
Unter Zeitdruck oder anderen Formen des Stress ist aktives Denken unmöglich. Dass ein Aktienhändler logisch-rational handelt, ist also ebenso wenig anzunehmen, wie dass ein Spitzenpolitiker es tut.
Die Fähigkeiten in dieser energieintensiven Meisterdisziplin des Gehirns sind – ähnlich wie die des restlichen Körpers – nicht allen Menschen in gleicher Weise gegeben. Die Denkfähigkeit erreicht im frühen Erwachsenenalter ihren Höhepunkt und nimmt danach bald ab. Kein Zufall also, dass geniale Leistungen von Mathematikern und Naturwissenschaftlern meist in relativ jungen Jahren gezeigt werden. Die großen Entdeckungen der theoretischen Physik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden von Männern in ihren Dreißigern gemacht: Werner Heisenberg war 26 Jahre alt, als er seine bahnbrechenden Erkenntnisse zur Unschärferelation veröffentlichte, den Nobelpreis erhielt er mit 31. Auch Einstein hatte mit 40 bereits den Höhepunkt seines Schaffens erreicht.
Also die Jungen an die Entscheidungshebel? Nein. Denn die denkerische Überlegenheit der Jugend geht mit einem Mangel einher, der in der Mathematik oder für genialische Erfinder nur eine kleine, in der Politik, im Management und den meisten anderen menschlichen Handlungsfeldern aber eine zentrale Rolle spielt: Erfahrung.
Erst schlafen, dann entscheiden
Komplexe Probleme ohne unmittelbaren Zeitdruck – also die weitaus meisten in Politik und Unternehmen - werden, so Roth, am besten mittels aufgeschobener Entscheidungen auf der Basis intuitiv vorliegender Erfahrungen gelöst. Nicht das energieintensive Arbeitsgedächtnis des logischen Kombinierers ist hier gefragt, sondern das „emotionale Erfahrungsgedächtnis“. Dieser unfassbar umfangreiche Speicher aus 500 Billionen Nervenverbindungen ist der mit den Erfahrungen des Lebens wachsende Schatz von Bewertungen, aus dem wir uns bei anstehenden Entscheidungen – meist unbewusst – intuitiv bedienen. Meist sind das nicht einmalige Erfahrungen, sondern solche, die wiederholt gemacht werden, um sich dadurch fest im emotionalen Erfahrungsgedächtnis zu verankern.
Wie das funktioniert, kann man bei erfolgreichen politischen Verhandlungen, zum Beispiel den Rettungsaktionen der Europäischen Union verfolgen. Die laufen in der Regel in vier Phasen ab: Zunächst sind die so genannten Experten gefragt, also Praktiker in den Ministerien und Ratgeber der politischen Entscheider. Ihre Aufgabe ist es, vor dem eigentlichen Gipfel die an und für sich kaum beschreibbare Komplexität des Problems auf eine kleine Zahl klar definierbarer Alternativen zu reduzieren. In der folgenden Phase kommen die verhandlungsführenden Minister oder Regierungschefs zusammen und diskutieren im besten Fall ein bis zwei Stunden diese Alternativen. Und zwar am besten ohne zusätzliche Expertisen, die die Lage wieder komplizierter machen würden. Wenn den Verhandelnden an einer bestmöglichen Lösung gelegen ist, sollten sie sich, rät Roth, nach dieser Diskussion um 24 Stunden vertagen – und möglichst nicht aktiv an das Problem denken, sondern … schlafen.
In der entscheidenden Sitzung am nächsten Tag werden die Alternativen dann nur noch einmal kurz vorgestellt. Die Verhandlungsführer sollten dann ohne weitere Aussprache intuitiv entscheiden beziehungsweise abstimmen.
„Erfahrungen, die meisten davon unbewusst, sind der beste Ratgeber. Aber wir müssen lernen, sie zu nutzen“, sagt Roth. Etwas Unbewusstes lernen? Wie soll das gehen? „Indem wir Erfahrungen Zeit geben, zu reifen“, sagt Roth. Aufgeschobene intuitive Entscheidungen bei komplexen Problemen brauchen einen festen, aber nicht zu eng gefassten Zeitplan. Besonders wichtig, so Roth, ist die verhandlungsfreie Nacht vor der Entscheidung. Dieses Wissen steckt auch hinter der alten Tradition in Armeen und anderen Institutionen, Beschwerden erst am Tag nach dem Vorkommnis anzunehmen. Auch die auf den ersten Blick seltsame Einrichtung einer „zweiten Lesung“ bei Gesetzesvorhaben in Parlamenten geht auf die guten Erfahrungen mit dem „darüber schlafen“ zurück, glaubt Roth: „Schlaf ist ein großer Problemlöser.“