Historie Geschichte der Drogen: Raketentreibstoff und Panzerschokolade

Ob im Krieg oder im Stadion, am Fließband oder am Schreibtisch: Seit über 100 Jahren konsumieren Menschen Drogen, um ihre Leistung zu steigern. Verbote hindern sie nicht daran.

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Die Wirkstoffe der Cannabis-Pflanze beeinflussen das Zentralnervensystem und führen zu Bewusstseinsveränderungen. Quelle: Foto: aboutpixel / Andreas Reimann

1799–1804  Alexander von Humboldt bereist Lateinamerika und berichtet, wie Einheimische die Blätter der Kokapflanze konsumieren. Das zügelt ihren Appetit, und die harte Feldarbeit fällt ihnen leichter.

1859/1860 In Göttingen gelingt es dem Apotheker und Chemiker Albert Niemann, die aktiven Komponenten des Koka-strauches zu isolieren. Er gibt dem Stoff den Namen Kokain. Weil er  euphorisiert und betäubt, wird er zunächst bei Depressionen und Operationen eingesetzt.

1883 Der bayrische Militärarzt Theodor Aschenbrand mischt seinen Soldaten Kokain ins Essen. Mit beeindruckendem Ergebnis: Selbst sehr erschöpfte und verwundete Soldaten fangen wieder an zu kämpfen.

8. Mai 1886  Ein neues Mittel gegen Kopfschmerzen, Hysterie, Melancholie und Müdigkeit kommt auf den Markt: Coca-Cola. Sein Erfinder John Stith Pemberton bewirbt die Medizin als „Brain Tonic“ – zu Deutsch: Hirntrunk. Zeitweise soll ein Liter etwa 250 Milligramm Kokain enthalten haben.

17. Dezember 1914 Schärfere Gesetze in den USA: Der Missbrauch von Kokain wird unter Strafe gestellt. Der Stoff verschwindet aus Coca-Cola und wird durch Koffein ersetzt.

Um 1922 Während es mit der Wirtschaft bergab geht, hat der Kokainkonsum in Deutschland Hochkonjunktur. Hier wird er erst um 1930 verboten.

1927  Knapp 40 Jahre nachdem Amphetamin erstmals künstlich hergestellt wird, testet der US-Chemiker Gordon Alles im Selbstversuch, wie der Stoff wirkt: stimulierend und euphorisierend.

1932 US-amerikanische Pharmafirmen bringen ein Amphetamin-Präparat auf den Markt: Benzedrine soll Krampfanfälle von Asthmatikern lindern. Kurz darauf wird es auch gegen 40 weitere Krankheiten eingesetzt, zum Beispiel Allergien und Erkältungen.

1936  Studenten der Universität Minnesota bemerken in einem Forschungsprojekt, dass Amphetamin Müdigkeit vertreibt, und sie benutzen es, um nächtelang durchzulernen.

1937  Benzedrine gibt es jetzt auch als Tablette. Und es wird bald ein Kassenschlager: Wer sich damit aufputscht, kann rund um die Uhr arbeiten.

1938  In Deutschland wird das Mittel Pervitin zugelassen und massiv beworben. In ihm steckt der Wirkstoff Methamphetamin, das noch stärker stimuliert als Amphetamin. Eine kleine Dosis der „Wunderdroge“ genügt, um 24 Stunden am Stück wach bleiben zu können.

1. September 1939  Deutsche Soldaten fallen in Polen ein. Viele von ihnen stehen unter Drogen. Millionen Einheiten Pervitin – auch bezeichnet als „Panzerschokolade“ oder „Hermann-Göring-Pillen“ – halten die Wehrmacht und die Arbeiter in der Rüstungsindustrie wach und fit. Der Stoff nimmt den Soldaten Todesangst, Durst und Hungergefühl, steigert ihre Aggressivität und Leistungsbereitschaft.

1941  Angesichts hoher Nebenwirkungen erkennt der „Reichsgesundheitsführer“ der Nazis die „Pervitingefahr“. Das Mittel wird verschreibungspflichtig.

Zweiter Weltkrieg  Auch britische, amerikanische und japanische Soldaten ziehen mit Millionen von Amphetamin-Tabletten in den Krieg. Der Stoff versetzt sie in den so- genannten „Fight, Fright, Flight“-Zustand: Der Körper konzentriert sich auf „Kämpfen, Fürchten, Flüchten“ und das pure Überleben. Alle anderen Bedürfnisse werden abgeschaltet.

1944 Der Chemiker Leandro Panizzon synthetisiert Methylphenidat – ein künstlicher und anregender Stoff, der Amphetamin ähnelt. Nach Jahrzehnten im Schattendasein wird es als Ritalin seinen Siegeszug antreten. Namensgeberin ist übrigens Marguerite Panizzon, die Ehefrau des Forschers: Sie nimmt das Mittel vor dem Tennisspielen und spielt gleich viel besser.

1945 Der Zweite Weltkrieg endet, der Konsum von Aufputschmitteln geht weiter. Lastwagenfahrer, Lohnschreiber und Studenten setzen auf die stimulierende und Schlaf verhindernde Wirkung von Amphetamin.

15. September 1950 Die USA und 15 andere Nationen intervenieren im Koreakrieg. US-Soldaten injizieren sich „Speedballs“: Cocktails aus Heroin und Amphetamin, das sie „Splash“ nennen.

1953/1954 Der österreichische Bergsteiger Hermann Buhl erklimmt im Himalaya den Nanga Parbat (8125 Meter) – auch dank Pervitin. In Bern gewinnt die deutsche Nationalelf die Fußball-WM. Ihr Mannschaftsarzt wird später verdächtigt, den Spielern den „Raketentreibstoff“ Pervitin eingeflößt zu haben.

1954 Ritalin ist jetzt auch in Deutschland zu haben: Wer schnell müde wird oder deprimiert ist, soll es nehmen, empfiehlt die Werbung – außerdem all jene, die nach einer schlaflosen Nacht am nächsten Tag Vollgas geben müssen.

Fünfzigerjahre In Japan konsumieren Schätzungen zufolge zwei Millionen Menschen Amphetamin, über 100 000 sollen abhängig sein. In den USA werden Medikamente mit dem Wirkstoff verschreibungspflichtig.

1961 Das internationale „Einheitsabkommen über die Betäubungsmittel“ wird beschlossen, um die Verfügbarkeit von Drogen einzuschränken.

1965 Die USA bombardieren Ziele in Nordvietnam. In den folgenden Jahren werden an die US-Militärs in Indochina über 200 Millionen Einheiten Amphe-tamine verteilt.

1966 Ein Report schockiert die USA, wonach es landesweit genug Amphetamine geben soll, um jedem Einwohner 25 bis 50 Dosen zu verabreichen.

1967 Hippies in den USA berauschen sich an der „Liebesdroge“ MDMA – einem Amphetaminabkömmling, der später als Ecstasy bekannt wird.

1968 In Grenoble finden die ersten offiziellen Dopingkontrollen bei Olympischen Spielen statt.

1970 In den USA werden die Gesetze verschärft: Wer Amphetamin ohne Genehmigung herstellt, besitzt oder damit handelt, macht sich strafbar. Präsident Richard Nixon erklärt dem „Staatsfeind Nummer eins“ den Krieg: Der „War on Drugs“ beginnt.

1971 In Deutschland löst das Betäubungsmittelgesetz das Opiumgesetz von 1929 ab. Die ungenehmigte Produktion von und der Handel mit Amphetaminen werden erst 1981 strafbar.

16. August 1977 Nach einer beeindruckenden Karriere als Musiker, angetrieben von Amphe‧taminen und anderen Drogen, stirbt in Memphis der König des Rock’n’Roll: Elvis Presley.

Achtzigerjahre In den USA mehren sich die Fälle von heftigem Methamphetamine-Missbrauch: Der Konsum von „Crystal“ oder „Meth“ steigt bis heute immer weiter an. Der Stoff macht enorm abhängig, stürzt die Konsumenten in einen orgiastischen Rausch und ruiniert ihr Leben in kürzester Zeit.

1985 Der Amphetaminabkömmling MDMA darf in den USA nicht mehr benutzt werden – dennoch hat er als Partydroge Ecstasy eine steile Karriere vor sich. Wer sie nimmt, kann zwar nicht besser arbeiten, aber besser feiern.

1988 Während Methamphetamin in den USA um sich greift, wird das baugleiche Pervitin aus den Regalen der deutschen Apotheken verbannt. Ritalin, das lange frei verkäuflich war, darf nur noch in geringen Mengen abgegeben werden.

Sommer 1998 Eine Dopingaffäre nie dagewesenen Ausmaßes überschattet das größte Radrennen der Welt, die Tour de France. Große Mengen des Hormons Epo werden sichergestellt.

20. Oktober 2000 Dem designierten Fußball-Bundes‧trainer Christoph Daum wird Kokainkonsum nachgewiesen. Ein Fernsehsender berichtet ein paar Tage später von Kokainspuren auf den Toiletten des Bundestags.

7. Oktober 2001 Vier Wochen nach den Anschlägen auf das World Trade Center beginnt in Afghanistan die Operation „Enduring Freedom“. In dem jahrelangen Einsatz schlucken viele Soldaten Antidepressiva wie Prozac. Schon länger nehmen Piloten der US-Air-Force vor Kampfeinsätzen „go pills“ – kleine Dosen Amphetamin.

9. April 2008 Das Fachmagazin „Nature“ befragt rund 1400 Forscher aus 60 Ländern, welche Medikamente sie einsetzen, um ihre Leistung zu verbessern. Überraschendes Ergebnis: 62 Prozent haben schon zu Ritalin gegriffen, 44 Prozent zu Provigil.

Gegenwart  Wer mit Kokain oder beim Handel mit dem Stoff erwischt wird, muss mit harten Strafen rechnen. In Deutschland gibt es in den Apotheken kein Amphetamin-Präparat mehr. Außerhalb der Legalität werden die Drogen allerdings weiter gehandelt – Amphetamin unter dem Namen „Speed“, „Amphe“ oder „Pep“.

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