Was für die menschlichen Körpermaße gilt, trifft auch auf den Verstand zu, wie Michael Miller von der Universität von Kalifornien in Santa Barbara vor wenigen Jahren herausfand. Der Neurowissenschaftler scannte die Gehirne von Versuchsteilnehmern mit einem Magnetresonanztomografen. Damit versuchen Hirnforscher jene Areale ausfindig zu machen, die bei bestimmten Tätigkeiten besonders aktiv sind. Miller fertigte für jeden Probanden eine Aktivitätskarte des Gehirns an. Aus den einzelnen Bildern bastelte er dann die Karte des Durchschnittsgehirns – in der Hoffnung, daraus verallgemeinerbare Erkenntnisse zu gewinnen. Doch kein Gehirn glich auch nur annähernd dem Durchschnittsbild.
Ebenso wenig lassen sich Persönlichkeit und geistige Fähigkeiten auf ein Mittelmaß reduzieren. Das konnte Yuichi Shoda, Professor der Universität von Washington, in einer Studie zeigen. Er untersuchte das Verhalten von Kindern in einem Sommercamp und wies nach, dass typische Charaktereigenschaften nicht festgeschrieben, sondern von der Situation abhängig sind. Mit anderen Worten: Ein Kind kann gleichzeitig auf dem Spielplatz extrovertiert, im Klassenzimmer aber introvertiert sein. Die Persönlichkeit hängt immer vom Kontext ab.
Notenschnitt und IQ alleine sagen nichts aus
Nimmt man die Ergebnisse zusammen, gerät ins Wanken, wie Schulen, Universitäten und Unternehmen seit Langem menschliches Potenzial bewerten. Einige Firmen haben das mittlerweile selbst erkannt. Die Google-Personaler stellten nach eingehender Datenanalyse fest, dass es nicht eine einzige Dimension wie den Notenschnitt oder den IQ gibt, die den Erfolg im Unternehmen vorhersagt. Stattdessen sind für jeden Job andere Eigenschaften entscheidend. „Die richtigen herauszufinden, um den Erfolg vorherzusagen, das ist der heilige Gral der neuen Personalpolitik“, sagte der Durchschnittsverweigerer Todd Rose im Interview mit der „Harvard Business Review“. Auch bei Deloitte ist man von der Bewertung mit einer einzigen Zahl abgerückt. „Wir fragen uns stattdessen: Was ist die detaillierteste Sicht auf unsere Mitarbeiter?“, schreibt Ashley Goodall, Direktor für Führungskräfteentwicklung, in einer Analyse der neuen Personalpolitik.
Unternehmen würden auch aus einem weiteren Grund gut daran tun, auf den Durchschnitt als Entscheidungshilfe zu verzichten: Er ist immer seltener aussagekräftig, findet Markus Hengstschläger. Der Österreicher, der das Institut für Medizinische Genetik an der Medizinischen Universität Wien leitet, warnt schon seit geraumer Zeit vor der „Durchschnittsfalle“, auf die Unternehmen und Institutionen zusteuern.
Einen Teil des Problems sieht er darin, wie Unternehmen Entscheidungen treffen. Viele handelten nach einem zu simplen Prinzip: Sie berechneten den Durchschnitt der Geschäftsentwicklung in der Vergangenheit – und schrieben ihn dann in die Zukunft fort. „Aber der Teil der Zukunft, den wir so berechnen können, wird kleiner. Die Welt dreht sich schneller, der Grad der Veränderung nimmt exponentiell zu“, sagt Hengstschläger.
Die andere Seite seiner Kritik trifft das Bildungswesen. Schulen brächten junge Menschen hervor, die überall ein bisschen was können müssten, besondere Talente würden dadurch allerdings ignoriert. „Der Durchschnitt wird zur Gleichmacherei missbraucht“, sagt Hengstschläger. Das verhindere jedoch Individualität – und genau darauf komme es in Zukunft an.
Der Österreicher begründet seine These mit Argumenten aus der Genetik. „Der einzige Grund, warum sich Menschen sexuell fortpflanzen, ist, größere Individualität zu erzeugen“, sagt Hengstschläger. Statt Eins-zu-eins-Kopien der elterlichen DNA entsteht eine Masse an Kombinationen, die sich an keinem Durchschnitt messen lässt, aber einen Vorteil birgt: „Irgendwann kommt ein Ereignis, mit dem niemand rechnet und auf das sich niemand wirklich vorbereiten kann“, sagt Hengstschläger. Wenn alle durchschnittlich sind, könne die Population daran aussterben: „Aber je größer die Individualität heute ist, desto größer ist die Chance, dass wir morgen für ein unvorhergesehenes Problem eine Lösung finden.“