Beginnen wir mit einem Kalauer. Kennen Sie die Geschichte vom Statistiker, der durch einen Fluss waten wollte, weil er im Durchschnitt nur einen Meter tief war? Er ertrank.
Zum Verhängnis wurde dem armen Mann ein klassischer Fehler im Umgang mit Durchschnittswerten. Weil er die mittlere Tiefe des Flusses kannte, glaubte der Experte, alles Wichtige zu wissen. Leider ist die Realität vom Mittelwert häufig doch weit genug entfernt, um darin unterzugehen.
Zugegeben, der Statistikwitz ist schon alt. Doch er zeigt weiterhin anschaulich die begrenzte Aussagekraft von einfachen Durchschnittsbetrachtungen. Basiert man darauf nämlich wichtige Entscheidungen, kann das mitunter gefährlich werden – nicht nur wenn es darum geht, fiktive Flüsse zu überqueren. Sondern etwa auch darum, talentierte Mitarbeitern zu finden und zu binden.
"The End of Average"
Davon ist zum Beispiel Todd Rose von der Harvard-Universität überzeugt. Er findet, dass viele Unternehmen und Bildungsinstitutionen beständig denselben großen Fehler begehen: „Von der Wiege bis ins Grab werden Menschen vor dem immer präsenten Maßstab des Durchschnitts gemessen, beurteilt danach, wie sehr man ihm gleicht oder wie weit man ihn übertrifft“, schreibt der Direktor des „Mind, Brain and Education“-Programms der US-Eliteuni in seinem aktuellen Buch „The End of Average“.
Tatsächlich ist der Durchschnitt als Maßstab und Messlatte seit Jahrhunderten allgegenwärtig. Wer heutzutage aufs Gymnasium will, braucht einen guten Notenschnitt; der Mittelwert der Abiturnoten entscheidet dann darüber, ob und was man studieren darf; und später im Beruf werden Leistungsbewertungen gerne im Vergleich mit dem Durchschnitt begründet.
Jahrelang haben auch große Konzerne wie Google oder die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte ihre Mitarbeiter an Durchschnitten und Standards gemessen und bewertet. Der Google Campus in Mountain View quoll über mit Absolventen von Eliteunis mit makellosen, weil überdurchschnittlichen Abschlussnoten. Deloitte verpasste seinen Mitarbeitern gleich einen eindimensionalen Rang, der ihre durchschnittliche Leistung auf einer Skala von eins bis fünf ausdrücken sollte.
Ein Großteil der Unternehmen handelt immer noch nach diesem Prinzip. Und dieser Durchschnittsfetisch ist auf den ersten Blick sogar nachvollziehbar, denn er macht es leichter, Einzelpersonen zu beurteilen und miteinander zu vergleichen. Menschen sind nun mal komplizierte Kreaturen. Wer ihre Persönlichkeit und ihr Verhalten wissenschaftlich untersuchen will, der taucht ein in eine chaotische Welt mit unordentlichen Daten.
Drei Fragen an den Management-Autor
Nimmt man die vielschichtigen Ausprägungen einer Person zusammen und bildet den Durchschnitt, dann bekommt man dagegen – Simsalabim – eine einzige, eindimensionale Bewertung, die vermeintlich das gesamte Talent eines Menschen umfasst. In dieser Welt reicht die Durchschnittsnote, um unsere Fähigkeiten zu beschreiben, und das Ergebnis des Myers-Briggs-Persönlichkeitstests, um unsere Persönlichkeit zu charakterisieren.
Das sind die Typen des Myers-Briggs-Typenindikators
Menschen vom Typ ENFJ haben ein extravertiertes Fühlen, introvertierte Intuition, extravertierte Sensorik und ein introvertiertes Denken.
Ein komplettes Profil finden Sie hier.
Der Myers-Briggs-Typen-Indikator ist umstritten, weil er auf eine Methode des spirituell angehauchten Schweizer Psychiaters Carl Gustav Jung zurückgeht, mit dem dieser seine Patienten in Kategorien einordnete. Zur Personalauswahl ist er nicht geeignet.
Menschen vom Typ ENFP haben eine extravertierte Intuition, introvertiertes Fühlen, extravertiertes Denken und introvertierte Sensorik. Ein komplettes Profil finden Sie hier.
Menschen vom Typ ENTJ zeichnen sich aus durch extravertiertes Denken, introvertierte Intuition, extravertierte Sensorik und introvertiertes Fühlen. Ein komplettes Profil finden Sie hier.
Der ENTP-Typ hat eine extravertierte Intuition, introvertiertes Denken, extravertiertes Fühlen und eine introvertierte Sensorik. Ein komplettes Profil finden Sie hier.
Der ESFJ-Typ zeichnet sich aus durch extravertiertes Fühlen, introvertierte Sensorik, extravertierte Intuition und introvertiertes Denken. Ein komplettes Profil finden Sie hier.
Menschen vom Typ ESFP haben eine extravertierte Sensorik, ein introvertiertes Fühlen, extravertiertes Denken und eine introvertierte Intuition. Ein komplettes Profil finden Sie hier.
Menschen vom Typ ESTJ haben ein extravertiertes Denken, introvertierte Sensorik, extravertierte Intuition und ein introvertiertes Fühlen. Das komplette Profil finden Sie hier.
Menschen vom Typ ESTP haben eine extravertierte Sensorik, ein introvertiertes Denken, extravertiertes Fühlen und eine introvertierte Intuition. Ein komplettes Profil finden Sie hier.
Dieser Typ zeichnet sich durch introvertierte Intuition, extravertiertes Fühlen, introvertiertes Denken und extravertierte Sensorik aus. Ein komplettes Profil finden sie hier.
Der INFP-Typ zeichnet sich durch introvertiertes Fühlen, extravertierte Intuition, introvertierte Sensorik und extravertiertes Denken aus. Ein komplettes Profil finden Sie hier.
Den INTJ-Typ kennzeichnen introvertierte Intuition, extravertiertes Denken, introvertiertes Fühlen und extravertierte Sensorik. Ein komplettes Profil finden Sie hier.
Der INTP-Typ zeichnet sich durch introvertiertes Denken, extravertierte Intuition, introvertierte Sensorik und extravertiertes Fühlen aus. Ein komplettes Profil finden Sie hier.
Der ISFJ-Typ hat eine introvertierte Sensorik, extravertiertes Fühlen, introvertiertes Denken und extravertierte Intuition. Ein komplettes Profil finden Sie hier.
Der ISFP-Typ zeichnet sich aus durch introvertiertes Fühlen, extravertierte Sensorik, introvertierte Intuition und extravertiertes Denken. Ein komplettes Profil finden Sie hier.
Menschen vom Typ ISTJ haben eine introvertierte Sensorik, extravertiertes Denken, introvertiertes Fühlen und extravertierte Intuition.
Ein komplettes Profil finden Sie hier.
Menschen vom Typ ISTP zeichnen sich aus durch introvertiertes Denken, extravertierte Sensorik, introvertierte Intuition und extravertiertes Fühlen.
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Das Problem ist bloß: „Dieser Maßstab ist fast immer falsch“, sagt Rose. Denn Begabungen verteilen sich nicht gleichmäßig über alle Eigenschaften. Sie sind vielmehr zerklüftet, mit spitzen Anstiegen und scharfen Tälern. Ein Durchschnitt kann kaum Sinnvolles aussagen.
Kunde als individueller König, Mitarbeiter als Massenware
Schon seltsam: Viele Unternehmen sind bislang offenbar nur auf einem Auge durchschnittsblind. Denn während sie die Individualität ihrer Mitarbeiter weitgehend ignorieren, sehen sie ihre Kunden viel differenzierter. „Jeder Kaufmann weiß, dass er die Hälfte seiner Kunden verlieren kann, wenn er Marketing und Preispolitik am Durchschnitt ausrichtet“, sagt Peter Kenning, BWL-Professor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Auch deshalb werden umkämpfte Märkte wie der Automarkt immer stärker segmentiert. Für jeden Käufer soll es genau das richtige Produkt zum richtigen Preis geben. Auch die Individualisierungsmöglichkeiten nehmen dank besserer Produktionstechniken und sinkender Kosten zu. Müsli, Schuhe oder Laptops können die Käufer heute online im „Mass Customization“-Verfahren mit wenigen Klicks auf ihre persönlichen Wünsche zuschneiden. „Die Perspektive auf den Kunden ist schon immer sehr individuell, denn das Individuum trifft am Ende die Kaufentscheidung, ihm muss man ein gutes Angebot machen“, sagt Kenning.
Schablonen passen nicht zu Menschen
Diese Besinnung auf das Individuum fordern manche Experten jetzt auch für die Talentsuche. Jeder Mitarbeiter habe besondere Stärken und Schwächen, die in wissensintensiven Unternehmen gewinnbringend eingesetzt werden können, sagt Rose: „Jeder von uns ist ein Sonderfall.“ Die Durchschnittsschablone der Personalabteilungen lassen diese Art von Talent aber nur selten durch.
Do's & Don'ts im Recruiting
Don't: Im Alleingang rekrutieren.
Do: Holen Sie sich Feedback von Kollegen zum Anforderungsprofil der offenen Stelle oder greifen Sie auf die professionelle Unterstützung eines spezialisierten Personalvermittlers zurück.
Don't: Zu viel erwarten
Do: Unterscheiden Sie zwischen Fähigkeiten, die für die Stelle unabdingbar sind und solchen, die entwickelt werden können (Muss- und Kann-Kriterien).
Don't: Auf Standard-Stellenanzeigen zurückgreifen.
Do: Erstellen Sie passgenaue Stellenanzeigen und fügen Sie interessante Details ein, wie Teamgröße, Berichtslinie, Unternehmenswerte, Weiterbildungsangebote und einen Link zu Ihrer Karriereseite.
Don't: Über Quellen suchen, die andere auch nutzen.
Do: Betreiben Sie Active Sourcing im passiven Bewerbermarkt. Viele festangestellte Kandidaten sind offen für interessante Stellenangebote. Führen Sie Mitarbeiterprogramme ein und prämieren Sie erfolgreiche Empfehlungen.
Don't: Die Lösung im Internet erwarten.
Do: Online-Tools können sehr wertvoll sein, die persönliche Interaktion ist jedoch der wichtigste Aspekt im Recruiting-Prozess. Bauen Sie sich eine Bewerber-Pipeline auf.
Don't: Zu lange warten.
Do: Sprechen Sie ein Angebot aus, sobald Sie einen Favoriten identifiziert haben. Sie riskieren sonst, Ihren Wunschkandidaten an die Konkurrenz zu verlieren.
Don't: Ein niedriges Gehalt anbieten.
Do: Ein marktübliches Gehaltspaket anbieten. Dafür kann man sich bei Gehaltsübersichten orientieren.
Rose hat Bildungsexperten, Psychologen und Hirnforscher auf seiner Seite, die eine Wissenschaft des Individuums propagieren, die Körper, Talent und Charakter nicht als eindimensionale, glatte Skalen betrachten, sondern als unregelmäßig verteilte Merkmale, die sich kaum mit Durchschnitten und Typisierungen beschreiben lassen.
Besonders gerne beruft sich Rose auf den Harvard-Absolventen Gilbert Daniels. Schon für seine Abschlussarbeit im Fach physische Anthropologie sammelte der seine Daten selbst, indem er die Hände von 250 männlichen Kommilitonen vermaß. Nach dem Abschluss durfte er seinen Zollstock im Dienst für sein Land zücken, als Leutnant in der flugmedizinischen Abteilung der amerikanischen Luftwaffe.
Durchschnittskörper gibt's nur im Lehrbuch
Sein Auftrag war es, eine erschreckend hohe Zahl an Unfällen bei der US Air Force zu untersuchen. Dazu sollte Daniels die Durchschnittsmaße der Piloten feststellen, um herauszufinden, ob diese überhaupt noch bequem in die Cockpits passen. Daniels packte sein Maßband, untersuchte akribisch unter anderem Schulterhöhe, Brustumfang und Armlänge von mehr als 4000 Piloten und kalkulierte daraus den Durchschnitt.
Nach all der Rechnerei überkam ihn aber eine andere Frage: Wie ähnlich sind die echten Piloten überhaupt dem theoretischen Durchschnittsflieger? Die Antwort, nachdem er jeden einzelnen mit dem Durchschnitt verglichen hatte: überhaupt nicht. Kein Einziger kam in den vermessenen Dimensionen an ihn ran. Den Durchschnittskörper findet man vielleicht im Lehrbuch oder im Museum, nicht im Cockpit. Diese Erkenntnis veränderte das Beschaffungssystem der Air Force. Innerhalb weniger Jahre wurden in jedem Cockpit verstellbare Sitze, Pedale und Gurte verbaut.
Kein Gehirn gleicht dem anderen
Was für die menschlichen Körpermaße gilt, trifft auch auf den Verstand zu, wie Michael Miller von der Universität von Kalifornien in Santa Barbara vor wenigen Jahren herausfand. Der Neurowissenschaftler scannte die Gehirne von Versuchsteilnehmern mit einem Magnetresonanztomografen. Damit versuchen Hirnforscher jene Areale ausfindig zu machen, die bei bestimmten Tätigkeiten besonders aktiv sind. Miller fertigte für jeden Probanden eine Aktivitätskarte des Gehirns an. Aus den einzelnen Bildern bastelte er dann die Karte des Durchschnittsgehirns – in der Hoffnung, daraus verallgemeinerbare Erkenntnisse zu gewinnen. Doch kein Gehirn glich auch nur annähernd dem Durchschnittsbild.
Ebenso wenig lassen sich Persönlichkeit und geistige Fähigkeiten auf ein Mittelmaß reduzieren. Das konnte Yuichi Shoda, Professor der Universität von Washington, in einer Studie zeigen. Er untersuchte das Verhalten von Kindern in einem Sommercamp und wies nach, dass typische Charaktereigenschaften nicht festgeschrieben, sondern von der Situation abhängig sind. Mit anderen Worten: Ein Kind kann gleichzeitig auf dem Spielplatz extrovertiert, im Klassenzimmer aber introvertiert sein. Die Persönlichkeit hängt immer vom Kontext ab.
Notenschnitt und IQ alleine sagen nichts aus
Nimmt man die Ergebnisse zusammen, gerät ins Wanken, wie Schulen, Universitäten und Unternehmen seit Langem menschliches Potenzial bewerten. Einige Firmen haben das mittlerweile selbst erkannt. Die Google-Personaler stellten nach eingehender Datenanalyse fest, dass es nicht eine einzige Dimension wie den Notenschnitt oder den IQ gibt, die den Erfolg im Unternehmen vorhersagt. Stattdessen sind für jeden Job andere Eigenschaften entscheidend. „Die richtigen herauszufinden, um den Erfolg vorherzusagen, das ist der heilige Gral der neuen Personalpolitik“, sagte der Durchschnittsverweigerer Todd Rose im Interview mit der „Harvard Business Review“. Auch bei Deloitte ist man von der Bewertung mit einer einzigen Zahl abgerückt. „Wir fragen uns stattdessen: Was ist die detaillierteste Sicht auf unsere Mitarbeiter?“, schreibt Ashley Goodall, Direktor für Führungskräfteentwicklung, in einer Analyse der neuen Personalpolitik.
Unternehmen würden auch aus einem weiteren Grund gut daran tun, auf den Durchschnitt als Entscheidungshilfe zu verzichten: Er ist immer seltener aussagekräftig, findet Markus Hengstschläger. Der Österreicher, der das Institut für Medizinische Genetik an der Medizinischen Universität Wien leitet, warnt schon seit geraumer Zeit vor der „Durchschnittsfalle“, auf die Unternehmen und Institutionen zusteuern.
Einen Teil des Problems sieht er darin, wie Unternehmen Entscheidungen treffen. Viele handelten nach einem zu simplen Prinzip: Sie berechneten den Durchschnitt der Geschäftsentwicklung in der Vergangenheit – und schrieben ihn dann in die Zukunft fort. „Aber der Teil der Zukunft, den wir so berechnen können, wird kleiner. Die Welt dreht sich schneller, der Grad der Veränderung nimmt exponentiell zu“, sagt Hengstschläger.
Die andere Seite seiner Kritik trifft das Bildungswesen. Schulen brächten junge Menschen hervor, die überall ein bisschen was können müssten, besondere Talente würden dadurch allerdings ignoriert. „Der Durchschnitt wird zur Gleichmacherei missbraucht“, sagt Hengstschläger. Das verhindere jedoch Individualität – und genau darauf komme es in Zukunft an.
Der Österreicher begründet seine These mit Argumenten aus der Genetik. „Der einzige Grund, warum sich Menschen sexuell fortpflanzen, ist, größere Individualität zu erzeugen“, sagt Hengstschläger. Statt Eins-zu-eins-Kopien der elterlichen DNA entsteht eine Masse an Kombinationen, die sich an keinem Durchschnitt messen lässt, aber einen Vorteil birgt: „Irgendwann kommt ein Ereignis, mit dem niemand rechnet und auf das sich niemand wirklich vorbereiten kann“, sagt Hengstschläger. Wenn alle durchschnittlich sind, könne die Population daran aussterben: „Aber je größer die Individualität heute ist, desto größer ist die Chance, dass wir morgen für ein unvorhergesehenes Problem eine Lösung finden.“