
Sie lesen sich wie die kleinen Zettel am großen Zeh von Mordopfern im Fernsehen: „Homejoy – Putzdienstleistung – zu hohe Kosten für die Kundengewinnung“. „Circa News – mobile Nachrichtenapp – fehlende Finanzierung, keine Käufer“. „EverythingMe – Android-App – kein Geschäftsmodell“. Die knappen Nachrufe stehen auf der Internetseite Autopsy.io, wo sich die Leichenhalle der amerikanischen Start-up-Szene besichtigen lässt. Gescheiterte Gründer skizzieren dort mit wenigen Worten den Namen, die Idee und die Todesursache ihrer vielversprechend gestarteten Unternehmen. Manche verweisen auf längere Texte, in denen sie die Gründe für ihr Scheitern reflektieren und mit Lektionen für potenzielle Nachahmer garnieren.
Das skurrile Portal dient als Gedächtnis für jene Fehlschläge, denen Start-ups früher oder später erliegen können. Es soll denen, die da noch kommen, eine tröstliche Botschaft vermitteln: Schaut her – und lernt, wie es nicht geht.
Die virtuelle Autopsie passt in den Zeitgeist. Wer all die Interviews liest und Reden hört, in denen Topmanager und Gründer über ihre Laufbahn philosophieren und daraus allgemeingültige Tipps für Leser und Zuhörer destillieren, der wird den Eindruck nicht los: Der Weg zum Erfolg führt über den Misserfolg. Er ist gepflastert von Niederlagen, Rückschlägen und Flops. Dieses Mantra verfestigt sich bei einem Blick in die Unternehmenskultur des Silicon Valley. Wo ein Sonnenuntergang über der kalifornischen Bay Area auch die zerstörerischste, peinlichste Pleite noch in pastellweiches Licht hüllt, wird das Scheitern gerade zum Fetisch erhoben. Bei den innovationsgetriebenen Techunternehmern gilt vor allem ein Glaubenssatz als Grundlage für langfristigen Erfolg: „Fail fast, fail often.“ Scheitere schnell, scheitere oft.
Was Headhunter raten: So gehen Sie mit Misserfolgen um
„Ob Schauspieler, Schriftsteller oder Maler – wer Großes geschaffen hat, erzählt auch immer eine Geschichte von Versuch und Irrtum. Warum also nicht selbstbewusst dazu stehen, dass man etwas ausprobiert hat? Jeder Misserfolg ist zugleich ein Lernerfolg. Gestehen Sie sich ein, dass etwas gescheitert ist. Ziehen Sie die richtigen Schlüsse und zeigen Sie, dass Sie es beim nächsten Mal besser gemacht haben. Man kann auch erfolgreich scheitern. Wenn man weiß, wann es Zeit ist, seine Entscheidung zu korrigieren.“
„Lügen haben kurze Beine: Versuche, Flops aufzuhübschen, zu kaschieren oder ganz unter den Tisch fallen zu lassen, sind zum Scheitern verurteilt. Seriöse Personalberater und auch viele Personalverantwortliche holen Referenzen bei vorherigen Arbeitgebern ein – spätestens dann kommen Sie in Erklärungsnot und sind schlimmstenfalls von der aktuellen oder auch künftigen Besetzungen ausgeschlossen. Deshalb bleiben Sie besser bei der Wahrheit. Außerdem sollten Sie Karriere-Knicke im Jobinterview am besten direkt und aktiv ansprechen. Dabei haben Sie Gelegenheit, zu erklären, wie Sie mit der Situation umgegangen sind und welche Lehren Sie daraus gezogen haben. Im schriftlichen Lebenslauf dagegen genügt die Angabe der betreffenden Station – eine Erklärung würde hier unbeholfen wirken und zu sehr wie eine Rechtfertigung wirken.“
„Ich rate vor allem zu Ehrlichkeit – und zwar sowohl im eigenen Umgang mit einem Misserfolg und der eigenen Analyse als auch in Bezug auf die Darstellung. Nur wer ehrlich zu sich ist, kann den Misserfolg reflektieren und daraus lernen. Und nur wer den Misserfolg ehrlich und nachvollziehbar schildert, signalisiert diese Lernfähigkeit. In Bewerbungsanschreiben ist es in Ordnung, den Abschied von einem Arbeitgeber zunächst mit Floskeln wie ‚strategische Differenzen‘ zu umschreiben. Im persönlichen Gespräch hingegen sollte man so konkret wie möglich werden – und so ehrlich sein, dass der Misserfolg nachvollziehbar, schlüssig und glaubwürdig ist.“
Der britische Unternehmer Richard Branson hat auf der offiziellen Website seines Virgin-Imperiums Lieblingszitate zum Thema gesammelt: „Jeder Mensch, vor allem jeder Unternehmer, muss Scheitern mit offenen Armen empfangen“, säuselt der Milliardär dort, „denn wir lernen nur durch Fehler.“ Die Bill-Gates-Stiftung schreibt, „dass die Lektionen, die aus Fehlern stammen, oft die wichtigsten sind“. Und Sun-Microsystems-Gründer Vinod Khosla sagt: „Ich habe wahrscheinlich häufiger versagt als jeder andere im Silicon Valley. Das ist egal. Ich erinnere mich nicht an die Fehler. Man erinnert sich an die großen Erfolge.“
Auch die Politik lässt sich von so viel Mut zum Flop inspirieren. Man dürfe Scheitern nicht als Untergang betrachten, sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel meint: „Wir müssen Menschen eine zweite und dritte Chance geben.“ Und FDP-Chef Christian Lindner, dessen Start-up Anfang des neuen Jahrtausends in der Insolvenz endete, resümiert: „Scheitern war für meine Persönlichkeitsentwicklung extrem wichtig.“
Seit Jahrzehnten versuchen Wissenschaftler die wahren Quellen beruflichen Erfolgs zu identifizieren, bislang jedoch können sie allenfalls spekulieren. Die einen setzen auf scheinbar altmodische Werte wie Fleiß, Ehrgeiz und Disziplin; die anderen vertrauen auf vermeintlich gottgegebene Eigenschaften wie Talent und Charisma; wieder andere bauen auf den Wert von Netzwerken, Glück oder Zufall. Und nun kommen die Praktiker und sagen: Vergesst das alles, Scheitern ist der wahre Weg zum Erfolg?
Was für ein Missverständnis!
Das Kalkül hinter dem Kult um die Karriere-Katastrophe hat durchaus noch Charme. Eine gefloppte Geschäftsidee im Lebenslauf ist kein Malus, sondern ein Bonus. Sie haftet dem Betroffenen nicht ein Leben lang als Makel an, sondern ziert ihn vielmehr wie ein Verdienstorden.
Einige CEOs, so berichten amerikanische Medien, stehen Bewerbern, die ohne Misserfolge durch Studium und Karriere geschwebt sind, inzwischen sogar skeptisch gegenüber. Deshalb gehört die Aufforderung „Erzähl mir von deinem größten Fehlschlag!“ mittlerweile zum Standardrepertoire im Vorstellungsgespräch. Wer einmal eine Niederlage erlitten hat, wird die gleichen Fehler bestimmt nicht noch mal machen – und ist deshalb umso wertvoller für das Unternehmen.
Das Leben und die Karriere, sie sind unter dieser Prämisse wie ein Computerspiel. Wer scheitert, der startet einfach wieder von Neuem. Im schlimmsten Fall als unbeschriebenes Blatt, im besten als wandelnde Enzyklopädie der Fehltritte, die beim nächsten Versuch vermieden werden.
Scheitern hat sich in den vergangenen Jahren zu einem echten Kult entwickelt. Ein Kult, der sich wunderbar in Büchern und Vorträgen vermarkten lässt – wobei sich dort, welch hübsche Pointe, meist jene Menschen äußern, die nach allgemeinen Maßstäben bereits erfolgreich sind.
Sie alle vermitteln den Eindruck, dass Scheitern nicht zwangsläufig etwas Schlechtes ist, im Gegenteil; dass es in vielen Fällen überaus wertvolle Lektionen bereithält, selbst wenn der Betroffene die erst auf den zweiten Blick erkennt. Weine nicht, weil es schiefging, predigen die Aposteln der Niederlage, sondern lächle, weil du es versucht hast.
Von wegen.
Denn wahr ist eben auch: Über all den positiven Folgen des Scheiterns werden die negativen Seiten gerne vernachlässigt. Die Grenze zwischen Idealisierung und Hypnotisierung ist an dieser Stelle schmal.