Karriere Erfolg mit der eigenen Pleite

Anne Koark ist insolvent und damit sehr erfolgreich. Über ihre Pleite schrieb sie einen Bestseller und wurde zu einer Galionsfigur der Gescheiterten.

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Heimbüro: Anne Koark berät jeden Tag mehrere Duzend Insolvente Quelle: Simon Koy für WirtschaftsWoche

Das Telefon klingelt meistens tief in der Nacht. Wenn die Gescheiterten ihren Kopf einige Stunden schlaflos in die Kissen gepresst haben. Und wenn da nichts mehr ist als Angst, dann wählen sie die Nummer von Anne Koark und klingeln ihre drei Wellensittiche und die beiden Söhne in ihrer Münchner Wohnung aus dem Schlaf. Anne Koark antwortet immer.

Einmal hatte sie gegen Mitternacht einen Mann am Apparat, der in seinem früheren Leben Millionen bewegt hatte. Dann setzte er alles auf eine Karte – und in den Sand. Um seinem kleinen Sohn die Schmach zu ersparen, ohne Geld aufzuwachsen, wollte er sich und seine Familie umbringen. Anne Koark überredete ihn zu einem Treffen. Fünf Stunden sprachen sie.

Es war ein Gespräch über große Hoffnungen und den Sturz aus der bürgerlichen Existenz. Anne Koark weiß, wie sich so ein Absturz anfühlt. Sie war selbst erfolgreiche Unternehmerin, gewann Preise und begeisterte die Presse mit ihrer Idee. Dann ging sie pleite und verlor alles, was sie besaß. Doch sie stand wieder auf und wurde mit ihrer Geschichte zu einer Galionsfigur der Gescheiterten.

Mehr als 130.000 Menschen straucheln in Deutschland Jahr für Jahr in die Insolvenz. Scheitern ist immer schmerzhaft, in Deutschland aber haftet ihm etwas Endgültiges an. Wer fällt, ist stigmatisiert. Die meisten schweigen deshalb.

Anne Koark spricht über ihre Insolvenz, ob sie gefragt wird oder nicht. Und als sie anfangs keiner fragte, schrieb sie ein Buch und nannte es „Insolvent und trotzdem erfolgreich“. Sie gründete den Verein „Bleib im Geschäft“, eine Anlaufstelle für Menschen, die von Insolvenz bedroht sind. Im Vereinsnamen steckt auch Anne Koarks Motto: Gescheitert ist nur, wer liegenbleibt.

Mission: Eine Pleite ist nicht das Ende

Ihr Buch wurde ein Bestseller. Bis ins nächste Jahr ist sie für Vorträge quer durch Europa gebucht. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Und sie tritt nicht nur als Expertin vor Arbeitsgruppen des Statistischen Bundesamtes auf, sondern berät auch Mitarbeiter der Europäischen Union.

Ihre Mission: Sie will zeigen, dass eine Pleite nicht das Ende ist. In fast makellosem Deutsch erzählt die gebürtige Engländerin deswegen überall ihre Geschichte. Sogar ein fränkisch rollendes „r“ hat sich über die Jahre in ihre Sätze eingeschliffen. Doch wenn sie auf dem Podium steht, ihre rotblonden Haare bändigt und ihr randloses Brillen-Kassenmodell auf der Nase zurechtrückt, wenn das Lampenfieber kommt, dann hört man, wo sie herkommt.

Als Germanistikstudentin verbringt sie zwei Auslandssemester im rheinland-pfälzischen Cochem. Sie verliebt sich in einen angehenden Banker und entscheidet sich für Deutschland.

Die Liebe geht, Anne Koark bleibt.

Als alleinerziehende Mutter legt sie eine steile Karriere hin. Sie arbeitet in Softwarefirmen, als Büroleiterin, im Controlling, schließlich rückt sie ins Management auf. Sie schuftet wie besessen. Anne Koark ist ein Mensch, der immer auf höchster Drehzahl läuft. Ihre Freunde nennen sie „Änn“ und sagen, dass Änn Koark vor allem eines ist: eine Powerfrau, ein 1,65-Meter-Kraftpaket mit einem unendlichen Repertoire an Ideen.

Eine dieser Ideen ist ihr „drittes Kind“, wie sie sagt. Es heißt „Trust in Business“, eine Beratungsfirma, die ausländischen Unternehmen hilft auf dem deutschen Markt Fuß zu fassen. Ein Musterknabe: In guten Monaten schreibt Anne Koark 100.000 Euro Umsatz in ihre Bücher – 45.000 Euro Gewinn vor Steuern.

Trust in Business räumt Preise ab und die „Süddeutsche Zeitung“ schreibt, Koark sei die „Erin Brockovich des deutschen Mittelstands“. Sie arbeitet so viel, dass sie einmal erst abends merkt, dass sie am rechten Fuß einen anderen Schuh trägt als am linken. Solche Geschichten findet sie lustig.

Ihre Mitarbeiter auch. Die schwärmen davon, wie Anne Koark aus dem Unternehmen „eine kleine Familie gemacht hat“, sagt etwa Kelly Heitzer, die bis zum letzten Tag dabei war. Anne Koark fühlt sich für jeden ihrer Mitarbeiter verantwortlich – bis hin zur Putzfrau.

Es ist der 11. September, als ein paar Irre zwei Passagiermaschinen in das World Trade Center in New York lenken. Sie reißen die amerikanische Wirtschaft mit sich in den Abgrund und mit ihr die zwei wichtigsten Auftraggeber von Trust in Business. Plötzlich sind Rechnungen im Wert von 40.000 Euro offen. Als dann noch ein potenzieller Investor telefonisch die Verhandlungen abbläst, weiß Anne Koark: das wars.

Sie legt auf und weint.

Urkunde: Für ihre Arbeit wird Anne Koark mit Preisen ausgezeichnet Quelle: Simon Koy für WirtschaftsWoche

Die Insolvenz ist nicht einmal das Schlimmste, es ist die Zeit davor. Anne Koark wacht nachts auf, Zahlenkolonnen rasen durch ihren Kopf. Je größer die Probleme werden, desto weniger schläft sie. Mit einem Glas Milch irrt sie durch die Wohnung. Eine Idee muss ich übersehen haben, denkt sie – und: Hoffentlich geht das gut.

Ein Unternehmer, der auf eine Insolvenz zusteuert, muss sich fühlen wie ein Fallschirmspringer ohne Fallschirm. Er weiß, bald schlägt er auf, und er kann nichts dagegen tun. Irgendwann macht die Angst vor dem Sturz wahnsinnig. Eines Nachts wacht Anne Koark auf und ist sich sicher, dass ihr das Jugendamt die Kinder wegnehmen wird, vor Panik bleibt ihr die Luft weg. Es ist das Einzige, was sie nicht durchstehen würde.

Das Konto ist schon gesperrt. Und wer kein Konto hat, bekommt kein Kindergeld, fliegt aus der privaten Krankenkasse und hat einen leeren Kühlschrank. Freunde steckten ihr Geld zu und überweisen die Beiträge für den Fußballclub ihrer Jungs. Sie trägt gebrauchte Kleidung von Bekannten, durch den Stress hat sie so viel „Insolvenzspeck“ angesetzt, wie sie sagt, dass ihre Anzüge nicht mehr passen. Die Hilflosigkeit quält sie. Über Monate.

Sie ist Opfer einer globalen Wirtschaftskrise und sucht die Schuld doch bei sich. „Mama hat Fehler gemacht“, sagt sie ihren Söhnen, „deswegen hat sie Schulden. Aber Mama wird bald wieder arbeiten und dann gibt es wieder Geld.“

160.000 Euro Schulden hinterlässt ihr Unternehmen. Das sind auch ihre Schulden. Ihre Wohnung wird verkauft, ihre Lebensversicherungen gepfändet und ihre Altersvorsorge aufgelöst. Sechs Jahre wird sie keinen Handyvertrag bekommen, keine EC-Karte. Jeden verdienten Euro, der über 1570 Euro hinausgeht, muss sie an ihre Gläubiger abtreten. Aber Mama arbeitet weiter.

Wenn man scheitert, ist es wichtig, nicht darüber nachzudenken, „was man verloren hat“, sagt sie. Man muss sich darauf konzentrieren, was man nicht verloren hat. Anne Koark hat ihren Kampfgeist bewahrt.

Weitermachen, wenn alles verloren scheint

Weitermachen, auch wenn alles verloren scheint, das kann man von Anne Koark lernen. Als junge Frau hatte sie einen schweren Unfall. Ihr Oberschenkelknochen war zertrümmert. Mit der Standardbehandlung, die Studenten in den Achtzigern in England erwarten konnten, hätte sie Monate nicht laufen können. Die Akademikerin in spe überredete den Arzt, sie mit Privatleistungen zu behandeln, weil sie später sicher als Privatpatientin wiederkäme. Er ließ sich bequatschen, nagelte ihr Bein und sie konnte bald wieder laufen. Fallen, kämpfen, aufstehen und weiterlaufen: Wenn Anne Koarks Leben ein Drehbuch hätte, wären das die Kapitelüberschriften.

Zu ihrer Mission kam sie durch einen Zufall. Monate vor der Insolvenz hat sie für einen Vortrag zugesagt. Das Thema: ihre eigene Erfolgsgeschichte, die inzwischen keine mehr war.

Doch Anne Koark hält ihre Zusagen. Nur hält sie jetzt einen anderen Vortrag: „Ich bin Anne Koark, und ich bin insolvent“, sagt sie zu Beginn. Am Ende der Rede wischen sich ein paar Menschen Tränen aus den Augen. Anne Koark erinnert sich, wie sie dabei selbst fast losgeheult hätte. Nicht nur, weil die vergangenen Monate wieder auflebten, sondern auch, weil die Geschichte so gut ankam.

Mit dem Instinkt einer Geschäftsfrau erkennt sie ihre Marktlücke. Insolvenzverwalter sind für die Gläubiger da, Schuldnerberater für Privatinsolvente. Aber um gescheiterte Unternehmer kümmert sich niemand. Sie könne sich aufregen, sagt sie und regt sich auf: „Überall geht es um Erfolg und noch größeren Erfolg. Wer scheitert, denkt, er wäre der Einzige.“

Anne Koarks wichtigste Botschaft ist: Wir sind nicht allein. Das kommt an. Kurz vor einem Vortrag in Frankfurt ruft ein Mann mit gezückter Digitalkamera ihren Namen: Der Koch der Catering-Firma hat ihr Buch gelesen und kann kaum glauben, dass sie sich jetzt an seinem Büffet bedient. Schon steht die kleine Frau neben dem großen Koch. Er strahlt, sie lacht, die Digitalkamera surrt.

Vortrag in Wien: Unternehmerisches Scheitern aus der Tabu-Zone geholt Quelle: J. Arnold

Der Koch war selbst insolvent und ihr Buch habe ihm geholfen, wieder auf die Beine zu kommen, sagt er und schiebt sich wieder hinter die Hähnchen-Erdnuss-Koriander-Spieße an den Grill.

Ihr Elan beeindruckt selbst die Gläubiger. Dem Münchner Anwalt Ernst Altweger schuldet Koark 30.000 Euro. Aber das ist ihm inzwischen egal. Altweger ist nicht nur Gläubiger von Anne Koark, sondern auch ein großer Fan: „Ich bewundere, wie sie ihren Zusammenbruch in positive Energie umgewandelt hat“, sagt er.

Mit dieser Energie will sie das Scheitern entstigmatisieren. Nach ihren Vorträgen, wenn der Applaus abebbt, herrscht meist Stille. Erst später an der Hotelbar scharen sich die Menschen um sie. Die Deutschen haben Angst, mit dem Thema in Verbindung gebracht zu werden. Umfragen zeigen, dass die Mehrheit gar nicht weiß, was eine Insolvenz bedeutet. Anne Koark sieht es so: Eine Insolvenz sei nur eine Etappe auf einer Lernkurve, und Scheitern gehört zum Gründen wie der Handelsregistereintrag. Das soll jeder wissen.

Und als wäre das nicht Mission genug, will Anne Koark es gleich noch mit dem System aufnehmen. Das deutsche Insolvenzrecht hat nur die Gläubiger im Blick. In Großbritannien und den USA sei das Ziel, das Unternehmen zu entschulden und es wieder auf die Beine zu bringen, sagt sie. Das sollte auch unser Ziel sein.

Mit diesem Ziel vor Augen fährt sie immer wieder nach Berlin. Bis zu Bundesjustizministerin Brigitte Zypries dringt sie vor. Dann erzählt sie aus ihrem Alltag, bis sie heiser ist. Wer insolvent ist, verliert den Zugang zu seinem Unternehmen. Ein offenes Tor für dubiose Geschäftemacher: Sie schicken falsche Rechnungen, gegen die sich Insolvente nicht einmal wehren können.

Schlimmer noch sei, dass Pleitiers ihre Insolvenzverwalter nicht aussuchen können. Koark berichtet von dem Freiburger Hotelbesitzer und ehemaligen Stadtrat Heinrich Schwär. Sein Insolvenzverwalter hatte den Verkauf seiner Immobilie verfügt. Kurz darauf ging das Hotel für 1,8 Millionen Euro unter den Hammer. Viel zu wenig. Schon vor dem Verkauf hatte der Hotelier einen Interessenten präsentiert, der mehr bot – vergebens. Der Insolvenzverwalter verkaufte Schwärs Lebenswerk zum Discount-Preis.

Es gibt Menschen, die sich daran stören, dass Anne Koark die Schuldner als Opfer zeichnet. Das nimmt sie in Kauf. Sie will, dass jeder ihre Geschichten kennt. „Insolvente sind die Toten unserer Gesellschaft“, sagt sie. Und es besteht kein Zweifel daran, dass sie die Toten auferwecken will.

Ihre Einsatzzentrale steht zwischen zwei mannshohen Palmen in ihrer Münchner Vier-Zimmer-Wohnung: Der Ein-Quadratmeter-Schreibtisch aus Fichtenholz, Modell Kinderzimmer, darauf ein Computer, der seine besten Jahre Mitte der Neunziger hatte. Das Unternehmen ist tot, „die Unternehmerin lebt“, sagt Koark. Fast rund um die Uhr ist ihre Insolventen-Seelsorge erreichbar. Bis zu 200 E-Mails von Unternehmern und Selbstständigen beantwortet sie am Tag.

Ob sie wieder ein Unternehmen gründen würde? „Ich unternehme doch etwas“, sagt Koark. Ihren Humor hat sie zu keiner Zeit verloren. Humor kann man nicht pfänden.

Deswegen wird wohl auch die Berufsbezeichnung auf ihrer Visitenkarte stehen bleiben: „Anne Koark“ steht darauf und darunter: „Pleitier“. Ein Banker hat viel Geld, ein Privatier viel Zeit und „ein Pleitier“, sagt Anne Koark, „hat viel Erfahrung“.

Das hat auch irgendwann ihr zwölfjähriger Sohn mitbekommen. Als die Kinder im Unterricht ihren Klassenkameraden den Beruf ihrer Eltern erklären sollten, sagte Anne Koarks Spross: „Meine Mama ist von Beruf pleite. Und sie hilft damit vielen Menschen.“

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