Kreativität Kann man zwanghaft originell sein?

Innovation: Wie die Kreativität unter Druck leidet Quelle: Getty Images

Mitarbeiter sollen heute innovativ sein, doch mit dem Zwang zur Kreativität erreichen Unternehmen oft das Gegenteil. Die besten Einfälle entstehen nicht durch Druck – sondern durch Freiraum.

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Es begann mit einer Dienstreise. Im August 1968 besuchte der Merck-Chemiker Ludwig Pohl eine Konferenz im US-Bundesstaat Ohio. Ein Forscher stellte dort das erste Flüssigkristall-Display der Welt vor. Eine Sensation, fand Pohl.

Nach seiner Rückkehr in die Firmenzentrale in Darmstadt empfahl er dem Merck-Vorstand, die Liquid Crystals (LC) unbedingt weiterzuentwickeln. Das Material wurde damals allerdings lediglich in Digitaluhren und Taschenrechnern eingesetzt, und die Investition erschien seinen Vorgesetzten riskant: „Wie wollen Sie einen Zentner davon verkaufen, wenn in eine Uhr gerade mal ein bis zwei Milligramm gehören?“ Pohl wusste keine Antwort. Empfehlung abgelehnt.

Der sture Chemiker forschte trotzdem weiter, zunächst verspottet, schließlich verehrt. Denn Merck ist inzwischen globaler Marktführer im Geschäft mit Flüssigkristallen, die heute kilogrammweise in HD-Fernsehern und Smartphones stecken. 2017 erwirtschaftete der Konzern mit der Einheit Display Materials gut 1,2 Milliarden Euro Umsatz.

Die Suche nach der Weltidee

Die Geschichte von Ludwig Pohl ist eines dieser Fallbeispiele, von denen Unternehmen gerne erzählen. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht irgendwo ein Chief Innovation Officer oder Digital Evangelist in einer Keynote das nächste große Ding präsentiert. In Zeiten des digitalen Wandels und der globalen Konkurrenz, so das Konferenzcredo, sind Tüftler mit disruptiven Ideen unentbehrlich.

Wer als Arbeitgeber mithalten will, lehrt Design Thinking und veranstaltet Inspiration Meetings; richtet Leseecken für erhellende Pausen ein, lädt Künstler zu Impulsvorträgen oder engagiert Unternehmensberater, die den Angestellten den Weg zur bahnbrechenden Idee weisen sollen. Der amerikanische Softwarekonzern Adobe ließ sich das Kreativitätsmantra 2014 sogar wissenschaftlich bestätigen. Eine Befragung von rund 300 IT-Managern ergab: Je stärker Firmen auf kreative Lösungen setzen, desto schneller wächst ihr Umsatz.

Und das IT-Unternehmen IBM meint nach einer Umfrage unter Führungskräften gar, Kreativität sei die wichtigste Eigenschaft von Managern überhaupt. Ständig sollen sie und ihre Angestellten in die Schuhe des fiktiven Erfinders Daniel Düsentrieb treten, sollen Neues wagen und Großes denken. Verständlich – und häufig vergebens. Denn der dekretierte Gedankenflug ist eine Unmöglichkeit: Zwang und Druck verhindern, dass sich kreative Gedanken entwickeln können. „Originelle Ideen“, sagt die amerikanische Geisteswissenschaftlerin Diana Senechal, „lassen sich nicht einfach verordnen.“ Mehr noch: „Die Dogmen verhindern Kreativität sogar.“

Senechal hat gerade ein Buch mit dem Titel „Mind over Memes“ veröffentlicht, was frei übersetzt so viel heißt wie „Vernunft vor Sprachtrends“. Darin kritisiert die Autorin, dass Managerphrasen wie „Kreativität“ oder „Teamarbeit“ unhinterfragt kursierten – und bezweifelt, dass das mit ihnen Behauptete und Bekräftigte tatsächlichen von Wert und Nutzen sei.

Was die Kreativität fördert

Zum Beispiel die standardisierten Tests, mit denen Unternehmen die Originalität ihrer Mitarbeiter fördern wollen. „Schreiben Sie innerhalb von drei Minuten so viele gelbe Objekte wie möglich auf.“ Das habe mit Kreativität eher weniger zu tun, sagt Senechal, und: Kreativität entstehe nicht aus dem Nichts heraus. Sie basiert auf Erfahrung, Expertise und Hartnäckigkeit. Sie gedeiht durch Experimente und intensives Grübeln, indem Wissen abgeändert oder neu kombiniert wird. Wer dazu fähig ist? Das lasse sich weder testen noch messen.

Ein weiterer Fehler der Kreativitätsapostel in Unternehmen: Sie fordern ihre Mitarbeiter dazu auf, kreativ zu arbeiten, ohne zu sagen, was sie damit meinen. Geht es darum, neue Technologien zu entwickeln? Oder sollen Mitarbeiter Vorschläge liefern, wie der Arbeitgeber sparen kann? „Kreativität braucht Material, mit dem man arbeiten kann“, sagt Senechal, „und zumindest ein vorläufiges Ziel.“ Dinge anders zu machen sei schließlich kein Selbstzweck. Auch muss nicht jeder Mitarbeiter ständig innovativ sein. Bei Routinetätigkeiten im Büro reicht oft Dienst nach Vorschrift. Hat ein Mitarbeiter dabei eine zündende Idee, wie ein Prozess optimiert werden kann – umso besser. Ansonsten sind die meisten Abläufe oft schon gut genug.

Ganz anders verhält es sich natürlich in der Forschung, bei der Produktentwicklung oder im Marketing: lauter Ideenschmieden. Um frische Gedanken zu fördern, brauche es aber keine Schulungen und keinen Druck. Stattdessen sollten Firmen lieber auf Geduld und Freiraum setzen – und auf den Zufall.

Kreativität ist unberechenbar

Die Forschung gibt Senechal recht. Joachim Funke ist Professor für Allgemeine und Theoretische Psychologie an der Universität Heidelberg. Er untersucht seit Jahrzehnten, wann Menschen die besten Ideen haben. Kreativität, sagt Funke, sei unberechenbar. Ein paar Tage Schulung hier, ein paar Stunden Brainstorming dort, schon habe man ein paar neue Ideen – solche Konzepte funktionierten nicht: „Unternehmen müssen akzeptieren, dass sie Kreativität nicht erzwingen können. Sie können allenfalls die Gelegenheit dazu schaffen.“

Gelegenheit statt Garantie, Zufall statt Planung – auf den Fluren klassisch deutscher Ingenieurfirmen, vielfach gerühmt für ihre Detailversessenheit und Perfektion, klingt das zunächst einmal abschreckend. So wie beim schwäbischen Papiermaschinenhersteller Voith – bis der damalige Vorstandsvorsitzende Hermut Kormann 2005 verkündete: „Bei Voith wird keine Idee, von der wir überzeugt sind, mehr am Geld scheitern.“

Seitdem traut man sich am Hauptsitz in Heidenheim auch mal Dinge zu tun, die sich im Nachhinein womöglich als sinnlos erweisen. Deshalb lernen dort Auszubildende nicht nur programmieren und konstruieren, sondern sie gestalten auch Kunstprojekte – derzeit ein drei Meter langes U-Boot für eine Museumsausstellung. Dadurch sollen sie früh, aber spielerisch lernen, eigenständige und neue Einfälle zu entwickeln. Für Voith scheint sich die Offenheit auszuzahlen: Seit Jahren zählt der gut 150 Jahre alte Mittelständler zu den wichtigsten Patentanmeldern in Deutschland.

In Heidenheim weiß man: Damit Mitarbeiter Zeit für kreative Einfälle haben, brauchen sie Platz zur Entfaltung – sowohl in Hinblick auf den Ort als auch den Inhalt ihrer Tätigkeit. Wer jeden Tag von neun bis fünf auf die gleiche Wand starrt und jeden Arbeitsschritt vorgegeben bekommt, wird davon kaum zu geistigen Höhenflügen angeregt. Oft seien es ungeplante Ereignisse, die uns auf neue Gedanken bringen, sagt der Heidelberger Psychologe Joachim Funke: „Kreativität entsteht durch das Abweichen von festen Regeln.“

Auch der Automobilzulieferer Bosch schätzt daher die Normabweichung: Viele Beschäftigte können inzwischen arbeiten, wann und wo sie wollen. Denkt eine Ingenieurin am besten bei einem Spaziergang über ein Problem nach, kein Problem: Auch Spazierzeit kann Arbeitszeit sein. Die kalkulierte Büroflucht als Kreativitätsimpuls? Aber ja: Nicht immer ist gemeinsames Nachdenken zielführend.

Der Psychologe Marvin Dunnette von der Universität Minnesota ließ 1963 Mitarbeiter des Mischkonzerns 3M Brainstorming-Aufgaben lösen, teils in Vierergruppen, teils allein – und in fast allen Fällen lieferten die Einzelkämpfer bessere Ideen. Der Austausch mit Kollegen kann helfen. Die stille Arbeit aber zuweilen noch mehr.

Leider haben es Querdenker in Konzernstrukturen schwer. Die Wertekommission, eine Initiative für Führungskultur, stellte vor einigen Jahren fest: Rund 40 Prozent der Manager legen auf die Integrität ihrer Angestellten Wert, nur 2,2 Prozent auf deren Mut.

Was die Kreativität fördert
Beschäftigung mit AbstraktemDer Psychologe Travis Proulx von der Universität von Kalifornien ließ Probanden sinnfreie Passagen aus Kafkas "Landarzt" lesen. In anschließenden Tests fanden sie mehr Lösungswege und schnitten besser ab als diejenigen, die eine redigierte Version gelesen hatten. Quelle: obs
BewegungFrank Fischer von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität analysierte die Gruppenarbeiten von 300 Studenten. Vorher hatte er den Raum mit höhenverstellbaren Tischen ausgestattet. Siehe da: Teilnehmer, die zwischen Sitzen und Stehen wechselten, kamen häufiger zu richtigen Ergebnissen als nur im Sitzen - und hatten 24 Prozent mehr Ideen. Quelle: Fotolia
SchlafenIm Schlaf findet kombinatorisches Denken statt, wie Denise Cai von der Universität von Kalifornien in San Diego 2009 bestätigen konnte. Sie ließ 77 Teilnehmer verschiedene verbale Aufgaben lösen, einige Probanden konnten zuvor ein Nickerchen halten - die lösten die Aufgaben am besten. Quelle: dpa
Positive GedankenDer Sozialpsychologe Jens Förster von der Jacobs-Universität Bremen fand in einer Studie heraus, dass die Teilnehmer eine kniffelige Aufgabe eher lösten, wenn sie zuvor an ihren Partner gedacht hatten. Der Gedanke an Liebe lässt in die Zukunft blicken - was dabei hilft, Dinge miteinander in Beziehung zu stellen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Quelle: Fotolia
Wirkung von FarbeIn blauer Umgebung steigt der Einfallsreichtum. Ravi Mehta und Rui Zhu von der Universität von British Columbia in Vancouver ließen Freiwillige im Jahr 2009 verschiedene Aufgaben lösen - roter Hintergrund verbesserte zwar die Leistung bei der Detailaufgabe, blau jedoch die Kreativität. Quelle: Fotolia

Der Darmstädter Pharmakonzern Merck will das ändern. Auch in der Hoffnung, dass sich eine Erfolgsgeschichte wie bei den Flüssigkristallen wiederholt. Für einen Konzern mit mehr als 50.000 Mitarbeitern weltweit und über 350 Jahren Tradition eine große Herausforderung. Deshalb setzt Merck auf große Worte – und ein neues Image: „Bahnbrechendes beginnt mit Neugier“, so der Slogan einer Markenkampagne. 2018 hat der Konzern ein mehrstufiges Programm entwickelt, um die Ideenproduktion der Beschäftigten anzuregen. Sie lernen jetzt, so viele Fragen wie möglich zu einem Problem zu stellen, bevor sie nach einer Lösung suchen. Sie knobeln jetzt an Rätselaufgaben und üben, sich von Kritik oder Widerständen nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.

Entscheidend ist die Botschaft: Jede Idee ist willkommen, jedes Experiment ein Gewinn. Nicht immer münden sie in disruptiven Geschäftsmodellen, manchmal scheitern sie komplett. Aber Führungskräfte, so die Idee (!), brauchen vor allem Geduld – und die Gelassenheit, bei Rückschlägen weiterzumachen.

Für Manager, die auf Effizienz und Perfektion getrimmt wurden, ist das oft schwierig, sagt Nils Matthies, Leiter des Berliner Voith Innovation Labs. Zu seinem Job gehört es, Kollegen im Unternehmen innovative Arbeitsmethoden beizubringen. Er rät Managern, ihren Mitarbeitern einen Rahmen, aber keine Lösungen mehr vorzugeben. Aus: „Baut eine Maschine, die X Meter kürzer ist und schmalere Papierbahnen bearbeitet“, wird dann etwa: „Wir brauchen eine Maschine, die nur halb so teuer ist.“

Und dann? Lässt man die Mitarbeiter einfach mal machen ...

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