An ihrem Beispiel erzählt Peter Kubelka die Urgeschichte der Kunst des Kochens. Von der Mama, die ihn mit in den Wald genommen habe. Die ihm zeigte, wie man sie richtig pflücke und nicht sofort in den Mund schiebe, sondern sie sammle, bis die zur Schale geformte Hand zehn Stück behüte, diese zum Mund führe und aus dem Genuss des Beißens der Früchte ein völlig neues Erlebnis entstehe. Eines, für das es sich zu verzichten lohnt. Mit dem Verzicht auf ein sofortiges Vergnügen zugunsten eines vermutlich größeren, das erst später kommt – damit beginnt das Kochen, die Speisenbereitung, wie Kubelka es nennt, die es von der Nahrungsaufnahme unterscheidet. Alles Weitere leitet sich davon ab.
Wien, Café Bräunerhof
Peter Kubelka sitzt am Fenster, iPad vor sich, Blackberry daneben. Ein freundlicher, schlagartig strahlender Herr, Jahrgang 1934, aufgewachsen auf dem Land, in Taufkirchen an der Pram. Experimentalfilmer, Gründer des Wiener Filmmuseums. Und emeritierter Professor der Frankfurter Kunsthochschule, der Städelschule. 1980 erhielt er gegen viele Widerstände die Zusage für seinen Lehrstuhl "Film und Kochen als Kunst". Sein Heimatland hat ihn für seine Verdienste um den Film mit den höchsten Orden ausgezeichnet, die Österreich verteilen kann. Unlängst wurde er bei der 50. Viennale für seine filmischen Werke gefeiert, in Brüssel wird am 6. Dezember sein „Monument Film“ nach New York, Wien und London Premiere feiern.
Der Guide Michelin - und seine Köche
Die Michelin-Sterne werden in Frankreich seit 1926 vergeben, in Deutschland seit 1966. Ein Stern steht für ein sehr gutes Restaurant in seiner Kategorie, zwei für eine hervorragende Küche und drei für eine der besten Küchen, die eine Reise wert sind.
Bundesweit vergaben die Tester des "Guide Michelin" 37 neue Sterne. Mit nun insgesamt 255 Sterne-Adressen habe die deutsche Gastronomie-Landschaft eine "neue Rekordzahl" erreicht.
Allein drei der zehn deutschen 3-Sterne-Häuser befinden sich in Baden-Württemberg, zwei jeweils in Niedersachsen und im Saarland. Aber auch Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen können mit je einem Restaurant der Spitzenklasse aufwarten.
In der Spitzenkategorie der 3-Sterne-Restaurants erzielt Deutschland mit mittlerweile zehn Häusern einen neuen Höchststand. Die Tester des "Guide Michelin" nahmen das Lübecker Restaurant "La Belle Epoque" mit seinem erst 35 Jahre alten Küchenchef Kevin Fehling in den illustren Kreis auf. Europaweit hat den Angaben zufolge nur noch Frankreich mehr Adressen mit der höchsten gastronomischen Auszeichnung.
Sieben neue 2-Sterne-Häuser wurden in den "Guide 2013" aufgenommen. Erstmals in Deutschland ist mit Küchenchefin Douce Steiner von dem Restaurant "Hirschen" im baden-württembergischen Sulzburg eine Frau in dieser Kategorie ausgezeichnet worden. Außerdem neu: der Berliner Küchenchef Tim Raue und sein gleichnamiges Lokal, das bayerische Haus "Il Giardino" (Bad Griesbach) und die "Villa Merton" in Frankfurt am Main. Die Zahl der 2-Sterne-Restaurants liegt dem "Guide Michelin" zufolge nun bei 36 und hat sich damit seit 2010 verdoppelt.
Sogar 29 Küchenchefs haben es neu in die Kategorie der 1-Stern-Restaurants geschafft, die jetzt bei 209 Häusern liegt. Neun von ihnen liegen in Nordrhein-Westfalen, darunter das "Enzo im Schiffchen" in Düsseldorf und "Bembergs Häuschen" in Euskirchen. An zweiter Stelle mit acht neuen 1-Stern-Häusern liegt Baden-Württemberg. Hier wurden unter anderem das "Erbprinz" in Ettlingen und das "Yosh" in Stuttgart ausgezeichnet.
Von den 24 Restaurants, deren Sterne im neuen "Guide Michelin gestrichen wurden, haben 8 geschlossen beziehungsweise schließen zum Jahresende. Abgestuft wurden unter anderem das "Quadriga" in Berlin und das "Brenners Park-Restaurant" in Baden-Baden.
Nun ist Kubelka seit Oktober um eine Auszeichnung reicher, den Eckart. Einen kulinarischen Preis, benannt nach dem Jahrhundertkoch Eckart Witzigmann. Im Oktober 2012 stand er neben zwei gewürdigten Köchen in München auf der Bühne und bedankte sich mit seinem Vortrag vor laut lachendem Publikum für den Preis.
"Ich hatte mit dieser Auszeichnung nicht gerechnet", sagt Kubelka. Das war Applaus aus einer Ecke, aus der er ihn nicht erwartet hätte. "Meine schlimmsten Kritiker sind die von der Berufsschule. Ich lehne Garnituren ab." Ein Preis im Namen eines Koches, der die Speisenbereitung auf komplexe Höhen trieb, passt auf den ersten Blick nicht dazu. Aber er ist sehr froh darüber. "Meine Arbeit bekommt so Anerkennung." Seinem Wunsch, dass "Kochen den gleichen Rang erhält wie Malerei oder Bildhauerei", ist er so ein wenig näher gerückt.
Die Kunst der Nahrungsaufnahme
Das Blackberry klingelt, Kubelkas Tischtennis-Gruppe möchte Termine klären. "Ich habe mit 70 Jahren das Spiel erlernt." Rente sei das größte Übel, der "Ruhe"-stand Unsinn, findet er. Vom Hölzchen aufs Stöckchen zu kommen, über das Leben zu reden, quer durch die Menschheitsgeschichte von Religion, Macht und Politik bis zu den Anfängen der Menschheit, ist für Kubelka ein Kinderspiel.
Dort beginnt sie, die Kunst der Nahrungsaufnahme. Schon vor Entstehung der ersten Höhlenzeichnungen sei das Menschentier damit beschäftigt gewesen, sein Essen zuzubereiten. Das Sammeln der Früchte wie das Zerlegen des Fleisches mit den ersten Werkzeugen, das seien die Schritte gewesen, den Weg der Nahrungsaufnahme zu gestalten. Und wer gestaltet, will die Welt zu seinen Gunsten verändern.
"Zwei Dinge miteinander zusammen zu verbinden, das ist es, was Denken leistet", sagt Kubelka beim Espresso. Die Speisenbereitung oder auch der Speisenbau ist für ihn ganz automatisch eine schöpferische Tätigkeit, die Metaphern bilde. Zwei Elemente werden zusammengeführt und ergeben etwas Neues. Etwas, das alle "beweglichen Wesen" eine. Und mithin kein Privileg der Menschentiere, wie Kubelka mit dem Verweis aufs Tierreich erklärt. Schimpansen würden Blätter in der Unterlippe transportieren und sie später mit einem aufgeschlagenen Ei verspeisen. Dieses Wissen, wann eine Frucht reif ist, welches Stück Fleisch wie zuzubereiten ist, hat Jahrmillionen Jahre überdauert, wurde weitergereicht – und erlaubt es jedem, Jäger zu sein. Und sei es vor den Regalen eines Feinkostgeschäfts.
Wien, 1. Bezirk, Feinkost Meinl
"Dies ist, wenn Sie so wollen, unser Jagdrevier, unsere Waffe ist das Geld", referiert Kubelka, einen Einkaufswagen vor sich her schiebend. Die Gemüseauslage ist voll, Kubelka aber unzufrieden mit der Qualität der Frühlingszwiebeln, außerdem haben die Kalbsnieren ihm nicht genug Fetthülle. Er predigt das Kochen von Hand, mit möglichst wenig Werkzeug, um mit den Händen zu spüren, was man zubereitet. So empfiehlt er es im Vorwort des von ihm neu herausgegebenen Buchs "Nicht mehr als sechs Schüsseln!", das Rezepte von F. Zenker des Kochs des Fürsten von Schwarzenberg enthält. Es stammt aus dem Jahr 1820, einer Zeit, die keine industriell produzierte Nahrung kannte. Dass heute die Regale voll sind mit Produkten, die jede Menge Emulgatoren, Aromastoffe und Konservierungsstoffe enthalten, stört ihn zwar, aber: "Das ist nur eine Phase, das geht wieder vorüber", sagt der Mann, der Speisenbau über eine Spanne von mehreren Millionen Jahren betrachtet. Auch die Frage, ob Vegetarismus geboten sei, erübrigt sich so nahezu von allein. Der Mensch, das Tier, sei ein Alles-esser. Von Beginn an.
"Man muss beißen dürfen"
Wien, 1. Bezirk, Kubelkas Küche
Es ist ein einfacher, gemütlicher Raum, mit scharfen Messer an der Wand, aber so gut wie keinem modernen Küchengerät. Den eigenen Wein, ungezuckert, ungeschwefelt, wenig Alkohol, schenkt er randvoll in kleine Gläser. "So wissen Sie immer, wie viele Achtel Sie hatten", sagt Kubelka und ärgert sich über die dünn geschnittenen Scheiben Bündnerfleisch. "Man muss beißen dürfen", sagt er, legt roh geschnittenes Filet daneben und fordert zum Essen auf: "Alter und Jugend". Essen und reden und denken – so verliefen seine Vorlesungen in der Städelschule in Frankfurt, zu denen er bis zur Emeritierung frühzeitliche Werkzeuge zur Speisenbereitung mitbrachte, die heute in Regalen neben anderen Artefakten ruhen.
Eine Schale mit braun gerösteten Grammeln, wie man in Österreich ausgelassenen Speck nennt, steht auf dem Tisch. "Grammeln herzustellen ist wie Stahlkochen", sagt Kubelka, die Technik sei nur viel älter. Alle heute gebräuchlichen Techniken leiten sich für ihn vom Kochen ab. Und ein Erfolgserlebnis habe jeder obendrein, der schneidet, dünstet, brät oder bäckt. Erfolgserlebnisse seien wichtige Bestandteile unseres Lebens, Kochen könne sie täglich bieten. Die Klage, so viel Zubereitungszeit stünde so kurzem Genuss gegenüber, will Kubelka nicht gelten lassen: "Wenn man handwerklich kocht, gibt es keine erfülltere Zeit, als die, die man mit dem Kochen verbringt. Das Bild gibt am meisten dem Maler, das Essen gibt am meisten dem Koch."
Wien, Restaurant Steirereck
Bilder und Gerichte – das scheint heute bei den besten Köchen zusammenzugehören und beginnt bei der Lyrik der Speisekarte. Die Speisen des laut Restaurantführern besten Restaurants Wiens, dem Steirereck, führen mehr als zwei Dinge zusammen, das Denken des Gastes wird sehr gefordert. Kleine Karten zu jedem Gericht geben Hilfestellung – was esse ich da eigentlich? Die Gold- und Chioggia-Rüben sind mit einer Würz-Tapenade aus Tamarinde, Zwiebeln, Kapern, Powidl, Knoblauch, Malz, Melasse, Ingwer, Zitronengras, Honig und Chili bearbeitet, dazu gefüllter Haselnuss-Blätterteig mit Kräutern, begleitet vom Saft von fermentierten roten Rüben mit Leindotter-Öl. Ein Gericht, elaboriert, erstellt von einem eingespielten Team. Von einem der besten, wie die Restaurantkritiker sagen, die auch in Deutschland gerade wieder die Meister ihres Fachs gekürt haben.
Atemberaubende Spektakel
Es sind aufwendig angerichtete Gebilde, atemraubende Spektakel aus Farbe und Form. Die Frage, ob das dann nun große Kunst sei, liegt auf der Hand. Es ist die falsche, meint Kubelka, der erneut engelsgeduldig seine Sicht darlegt. "Virtuosität und kostspieliger Aufwand garantieren nicht gute Kunst. In der Restaurantküche dienen sie eher dem Statusbedürfnis des Gastes." Er berichtet von der Mehlsuppe, die früher jede Bäuerin beherrschte. Jede Suppe im Dorf habe anders geschmeckt, obwohl jede Bäuerin dieselben Zutaten verwendete. Und natürlich habe es bessere und schlechtere Suppen gegeben. "Liebe und Zuwendung während der Herstellung entscheiden über die Qualität eines Bildes, einer Skulptur, einer Speise. Ein Künstler drückt mit seinem Werk seine Weltsicht aus. Handwerkliches Kochen macht aus jedem Menschen ein Original."
Verdorbener Kunstbegriff
Der klassische Kunstbegriff, wütet Kubelka auf die allerfreundlichste und stets geduldigste Art, sei heute verdorben. Künstler seien Menschen, die etwas schöpfen und tun, ohne Rücksicht zu nehmen, dafür seien sie von Beginn an verfolgt, gar getötet worden. Der Kunstbetrieb dieser Tage sei mittlerweile ein Geschäft. Kuratoren würden Künstlern den Rang ablaufen. In unserer westlichen Gesellschaft müsste kein Künstler mehr für seine Arbeit sterben, es gäbe heute dank dem Kommerz Methoden, sie zu domestizieren. Ausgerechnet aber einen der elaboriertesten Vertreter der Zunft, den spanischen Avantgardekoch Ferran Adrià, hält Kubelka für einen Künstler in seinem Sinne, weil er etwas getan hat, was er tun musste, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, was für Folgen es hat. "Und die beste Mehlsuppenköchin kocht, ebenfalls rücksichtslos, so, wie es ihrer Meinung nach richtig ist."
Kubelka verweist auf die politische Dimension. Jede Speise gebe Auskunft über den, der sie zubereitet, und den, der sie isst. Der römische Kaiser Vitellius demonstrierte mit einem Gericht aus Seefischlebern, Hirnen von Fasanen und Truthähnen, Zungen von Flamingos und Milzen von Muränen seine Macht – schließlich war die Logistik der Flotte nötig, um die Zutaten zeitgleich heranzuschaffen. "Nur er konnte so ein Gericht zubereiten lassen." Restaurants seien heute ebenfalls Bühnen der Selbstdarstellung. Nicht jeder Gast interessiere sich für die Speisen. Oft solle die Zugehörigkeit zu einer Gruppe demonstriert werden.
Der Käsewagen kommt. Die Speisenbereitung, meint Kubelka, diene dem Auslagern der Verdauung. Was gut schmeckt, weckt Vertrauen, der Mensch, der isst, glaubt dem Koch, dass er ihm Gutes tun will. Die Zunge, nicht das Auge, überprüfe, ob das, was der Mensch zum Überleben zu sich nimmt, auch richtig sei. Die Entscheidung, ob ein Gericht hält, was es verspricht, träfe der Körper erst später: "Wenn die Gedärme zufrieden sind, dann war es gut."