Wenn Gerhard Richter einen offenen Brief schreibt, herrscht Alarmstimmung, nicht nur in der Kunstszene. Zumal wenn es sich um einen Brandbrief handelt, in dem er einer ganzen Stadt mit Liebesentzug droht. Vor ein paar Tagen hat Deutschlands berühmtester Maler in einem Schreiben an den Leverkusener Oberbürgermeister gegen die von der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG unterbreiteten Pläne zur Schließung des Museums Morsbroich protestiert, einer „hoch angesehenen Institution“, wie Richter schreibt, die auch „zwei wichtige Gemälde“, Aquarelle, Zeichnungen und Druckgrafiken aus seiner Hand beheimate.
Die Wirtschaftsprüfer haben dem Stadtrat vorgerechnet, dass durch „die Einstellung der Ausstellungstätigkeit“ und die „Auflösung der Sammlung“ von 2019 an ein jährlicher Betrag von 778.450 Euro eingespart werden könne. Richter sprach von einem „erschreckenden Vorschlag“. Eine öffentliche Sammlung sei „keine Geldanlage, die je nach Kassenlage geplündert werden kann“. Die Pläne zur Schließung des Museums müssten vom Tisch.
Er würde sich freuen, „auch künftig noch einen guten Grund zu haben, nach Leverkusen zu fahren“. Der Künstler als selbstloser Anwalt des Museums, in dem das Erbe einer Stadt bewahrt wird, ihr Gedächtnis, ihre kulturelle Identität?
Vor einigen Monaten spuckte Richter noch ganz andere Töne. Im Streit um den Entwurf des neuen Kulturgutschutzgesetzes, das den internationalen Handel mit national bedeutsamen Kunstgütern reglementieren soll, empfahl er, dem Beispiel seines Malerkollegen Georg Baselitz zu folgen, der Leihgaben in München abhängen ließ und in Dresden und Chemnitz zurückverlangte, um sie dem Zugriff des Staates zu entziehen. „Die Bilder aus den Museen holen“, riet Richter, „schnellstens auf den Markt bringen und verkloppen.“
Seine Leverkusener Intervention wäre daher „sehr viel glaubwürdiger“, meint der Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich, wenn der Künstler den Bildungsauftrag der Museen auch während der Kulturschutzdebatte gewürdigt hätte, anstatt um die Zirkulation und Verkaufserlöse seiner Bilder zu bangen. Sein offener Brief wirke „extrem opportunistisch“ – und passe überdies ins Bild einer „Siegerkunst“, die von wenigen erfolgreichen Künstlern für einen exklusiven Kreis sehr reicher Menschen produziert werde.
Sind es also letztlich die Künstler selbst, die Finanzpolitiker und Wirtschaftsprüfer auf die Idee bringen, die Millionenwerte ihrer Museen zu versilbern? Warum sollen die klammen Kommunen an Rhein und Ruhr, in Duisburg, Mönchengladbach, Leverkusen, nicht auch etwas haben von den Preisexplosionen auf dem Kunstmarkt – und ihren Richter oder Sigmar Polke diskret zur Versteigerung freigeben?
„Weil wir es uns nicht leisten können, kulturpolitisch abzudanken“, sagen Hans Wilhelm Reiners, Gert Fischer und Susanne Titz, der Oberbürgermeister von Mönchengladbach, der Kulturdezernent und die Direktorin des Museums Abteiberg. Die drei sind sich herzlich einig in fast allem, was sie sagen: Eine Schließung des überregional bekannten Hauses für zeitgenössische Kunst – das sei undenkbar, das käme einem Offenbarungseid gleich, das wäre eine Kapitulation.
Das 1982 eröffnete Haus, ein mit dem Pritzker-Preis dekoriertes Hauptwerk des Architekten Hans Hollein, in dem vorzügliche Arbeiten von Richter, Polke, Warhol, Beuys, Kippenberger und natürlich von den Lokalmatadoren Heinz Mack und Gregor Schneider zu sehen sind, ist neben dem Fußballbundesligisten Borussia die einzige überregionale Marke der Stadt – wenn auch nur für einen kleinen Kreis von Kunstinteressierten.
„Ohne das Museum könnten wir nicht mal mehr versuchen, für Großstadtmenschen mit guter Ausbildung und etwas dickerem Portemonnaie attraktiv zu bleiben“, sagen Reiners-Fischer-Titz und: „Wir weigern uns, in einer Welt zu leben, in der die öffentliche Hand nur noch die elementarsten Grundbedürfnisse ihrer Bürger, ihr Essen, Trinken, Wohnen organisiert.“
Gründe für die Malaise sind zahlreich und widersprüchlich
Was aber bedeutet es, in Zahlen ausgedrückt, wenn eine arme Mittelstadt sich den letzten Rest ihrer (Bildungs-)Bürgerlichkeit zu erhalten versucht? Mönchengladbach hat eine Milliarde Euro Schulden. Der Haushalt umfasst 900 Millionen. Fast die Hälfte davon verschlingt der Sozialetat: Arbeitslosengeld, Grundsicherung, Asylbewerber ... – jeder sechste Mönchengladbacher ist Leistungsempfänger.
Für die Kultur hingegen, für das Surplus, das eine Stadt als Stadt erst lebenswert macht, erübrigt Mönchengladbach gerade mal 22 Millionen Euro – knapp 15 Millionen für das Orchester und den mit Krefeld geteilten Theaterbetrieb, rund 2,3 Millionen für das Museum. „Wir schämen uns für unseren Kulturetat“, sagen Reiners-Fischer-Titz. Die jährlichen Zuschüsse für Ausstellungen liegen seit drei Jahrzehnten bei immer gleichen 53.900 Euro (100.000 Mark). Und mit dem immer gleichen Ankaufsetat (25.000 Euro) kann Susanne Titz heute kaum mehr als fünf Quadratzentimeter einer frisch bemalten Richter-Leinwand erwerben.
Längst ist der Abteiberg, vor zehn Jahren für fünf Millionen Euro saniert, das Musterbeispiel eines Kunstmuseums, das teuer gebaut und billig betrieben wird. Künstlerisch über dem Schnitt kann Titz ihr Institut allein mit Co-Finanzierungen, Zuschüssen, Schenkungen halten.
Die Gründe für die Malaise der regionalen Kunstmuseen sind so zahlreich wie widersprüchlich. Da ist zum einen die übermächtige Konkurrenz der Metropolen, die ihre Museen in Erlebnisparcours für Stadttouristen umgewidmet haben und mit aufgeplusterten Blockbuster-Ausstellungen den schnellen Kulturkonsumhunger der Massen stillen: In die Londoner Tate Modern pilgern in zweieinhalb Tagen so viele Besucher (50.000) wie jährlich nach Mönchengladbach und Leverkusen zusammen.
Da sind zum anderen die Künstler, für die das Museum keine Letztinstanz mehr ist, keine Institution, die die Qualität der ausgestellten Kunst beglaubigt: Für die meisten Maler und Bildhauer ist der Erfolg in Topgalerien, auf Messen und Auktionen längst wichtiger als ein Ehrenplatz im Museum: Ihr Ruhm bemisst sich an steigenden Faktorpreisen und medialer Aufmerksamkeit, nicht an der Präsenz in einer öffentlichen Sammlung.
Und da sind schließlich drittens die Kunstmuseen selbst, die paradoxerweise unter zu viel Homogenität und Beliebigkeit zugleich leiden: Sie stellen einerseits das Leichtgängig-Stiltypische aus, um überhaupt Besucher anzuziehen – und ächzen andererseits unter der schieren Masse einer richtungslos gewordenen Kunstproduktion. In den Depots stapeln sich 95 bis 99 Prozent der Bestände, schätzt der Kunsthistoriker Walter Grasskamp – so manches Meisterwerk und auch so manches, was zu Recht vergessen ist.
Die Frage, ob auch Leverkusen – neben Köln, Düsseldorf, Duisburg, Mönchengladbach – ein paar Leinwände von Gerhard Richter sein Eigen nennen muss, liegt daher nahe. Zuletzt warnte Christiane Lange die Museen vor „ständigem Wachstum“. Die Direktorin der Staatsgalerie Stuttgart schlug vor, kleinere Sammlungen zusammenzulegen, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu bündeln.
Ihr Argument: Parallel zur Inflation der Museen – seit 1990 sind mehr als 700 neu gegründet worden – stünden viele von ihnen heute zur Disposition. Überraschend ist daher vor allem, dass es bisher noch nicht zu spektakulären Schließungen gekommen ist. Vielleicht, weil die Respektreste vor den klassischen Aufgaben des Museums zu groß sind?
Ein Gemälde als Recheneinheit?
Fragt sich nur, wie lange noch. Bis weit ins 20. Jahrhundert waren Museen vor allem fürs Sammeln, Bewahren und Forschen zuständig; die Ausstellung der Bestände war zweitrangig. Das änderte sich Anfang der Siebzigerjahre mit der Losung „Kultur für alle“, eine gut sozialdemokratisch gemeinte Forderung mit Folgen: Seither zählt nicht mehr die Erschließung und kritische Sichtung von Kunstwerken, sondern ihre publikumswirksame Präsentation.
Das Bildungsmotiv, so Grasskamp, wurde „durch die Sozialmathematik der Quote ersetzt“ – und das „ursprünglich angepeilte Ziel einer breiten Teilhabe an der Kultur verflachte zur rein numerischen Messbarkeit ihrer Effizienz“. Eine Entwicklung, die weder rückgängig zu machen noch aufzuhalten ist, so Grasskamp, weil das Bildungsbürgertum, das einst dem Kunstmuseum seine historische Bedeutung verleihen konnte, „kulturpolitisch in keiner der konkurrierenden Parteien mehr tonangebend“ ist.
Die Museumsgeheimtipps der Wiwo-Korrespondenten
Der Geheimtipp: Wer dem englischen Humor näher kommen will, sollte das Londoner Cartoon Museum besuchen, das in drei Räumen rund 230 historische und moderne Karikaturen und Comic Strips zeigt. Jedes Jahr prämiert das Museum die besten Karikaturisten unter 18 und 30 Jahre. Es befindet sich in der Nachbarschaft des British Museums, erhält keine öffentlichen Mittel und kostet Eintritt.
The Cartoon Museum, 35 Little Russell Street, London WC1A 2HH
Beim Museum Neue Galerie, das auf New Yorks Museums-Meile in der Fifth Avenue liegt, ist der Name Programm. Hier geht es deutsch zu, in der Kunst wie beim Kuchen. Besucher finden eine eindrucksvolle Sammlung deutscher und österreichischer Kunst des 20. Jahrhunderts. Nicht minder eindrucksvoll ist – zumindest für amerikanische Verhältnisse – die Auswahl an deutschen und österreichischen Kuchen in den beiden Museumscafés. Wer in New York Sachertorte in edler Wiener Kaffeehausatmosphäre speisen will, geht in die Neue Galerie. Nicht selten scheint die Anziehungskraft des Kuchens höher als die der Kunst. Dann herrscht Leere vor den Klimts, Klees und Kirchners, während die Schlange der Café-Gäste bis auf die Straße reicht.
Neue Galerie, 1048 5th Avenue, New York, NY 10028
Auf einen Tee mit George Sand.
Das Musée de la vie romantique liegt versteckt am Ende einer kleinen Seitenstraße unweit der lauten Place Pigalle. Eben noch von schreiender Leuchtreklame für sehr viel unromantisch bloß gelegte Haut umgeben, trifft der Besucher beim Betreten des Gartens mit nur wenig gebändigten Rosenbüschen und Fliederbäumen auf das Paris des 19. Jahrhunderts. In dem Pavillon im italienischen Stil, der heute das Museum beherbergt, traf sich das künstlerische "Who is who" der Epoche bei dem damaligen Mieter, dem Maler Ary Scheffer. Rossini, Dickens, Delacroix, Chopin und auch George Sand. Der Schriftstellerin, die eigentlich Amantine Aurore Lucile Dupin de Francueil hieß und unter dem Männernamen George Sand Romane und gesellschaftspolitische Beiträge verfasste, ist das gesamte Erdgeschoss des Museums gewidmet. An sonnigen Tagen sollte man unbedingt noch auf einen Tee im Garten verweilen.
Musée de la vie romantique, 16 rue de Chaptal, 75009 Paris
Schon gar nicht in Leverkusen, wo man ein Richter-Gemälde als Recheneinheit versteht, wo das Schloss Morsbroich ein Instrument des Stadtmarketings ist und ein Museum bestenfalls sozialinklusive Zwecke zu verfolgen hat. Es ist bezeichnend, dass das Museum Morsbroich von einem Leverkusener Ratsherrn als „elitärer Schuppen“ verunglimpft wurde, als „Luxusgut, das sich eine kleine Klasse dieser Stadt erhält“.
Das Thema Bildung sei „eigentlich durch“, der „point of no return“ längst erreicht, sagt Wolfgang Ullrich – und die angedrohte Schließung eines Museums paradoxerweise die „letzte Konsequenz“ der Formel „Kultur für alle“. Letztere werde heute von niemandem mehr in Zweifel gezogen. Die Folge sei eine Art von Klassenkampf, der sich vor allem in Nordrhein-Westfalen beobachten lässt: Das Museum solle den Resten des Bildungsbürgertums entrissen werden, um es für soziale Randgruppen zu öffnen. In einer Zeit, da die Künstler allenthalben nach dem Markterfolg schielen, so das Argument, ist es für die Museen nur billig, dass sie am Publikumsmarkt reüssieren.
Neues Verhältnis zum Besucher
Das bedeutet durchaus eine Aufwertung der Museen. Ullrich beobachtet das „gewandelte Selbstverständnis der Museen“ an der Karriere des Begriffs der Kunstvermittlung. Dass sie Werke berühmter Künstler wie Koons oder Gursky aus ihrem Ankaufsetats nicht bestreiten können, kompensieren die Museen durch Workshops, die Kinder, Jugendliche und Erwachsene, auch Alzheimer-Kranke dazu motivieren sollen, in der Begegnung mit den Kunstwerken der großen Kreativen die eigene Kreativität zu entdecken.
Der Besucher wird nicht „von oben herab“ kunsthistorisch belehrt, sondern zur inspirierenden Mitarbeit eingeladen. Kurz, Beuys hat gesiegt, jeder ist im Museum kreativ, darf sich, neben den Genies, als „gleichberechtigter Künstler erfahren“. Wollte man in Leverkusen mit der Zeit gehen, könnte man hier ansetzen und das Museum Morsbroich zur „Kreativitätsagentur“ ausbauen, die „Hebammenarbeit“ leistet bei der Umgestaltung des Rezipienten zum „aktiven Kreativen“.
Maulkorb für die Museumschefs
Das Problem ist, dass sie in Leverkusen nicht mal mehr eine bildungsbürgerlich entkernte Museumskultur als einen Wert begreifen, sondern nur noch als haushalterischen Ballast. Wen wundert’s? Wer die Argumente für die Relevanz von Hochkultur verlernt, die Schwellen bis zur Selbstverleugnung senkt und sich auf das Spielfeld der betriebswirtschaftlichen Logik zwingen lässt, darf sich am Ende nicht wundern, wenn er den Insolvenzrichtern von KPMG vorgeführt wird.
Roswitha Arnold, Vorsitzende des Kulturausschusses in Leverkusen, erreicht viele ihrer Ratskollegen nicht mal mehr mit dem Selbstverständlichsten: dass der Haushalt nicht wegen der Kultur in Schieflage geraten ist und daher auch nicht auf Kosten der Kultur saniert werden kann. Dass die Schließung des Museums die Stadt noch ärmer machen würde. Dass ausgerechnet die Spitzenwerke einer Sammlung nicht verhökert gehören, weil ihre Präsentation (und die Einnahmen aus dem Leihgabensystem) die Bilanz verbessern. Leverkusen hat die Kultur 2002 in einen Eigenbetrieb ausgegliedert und ihr eine Million (von 9,3 Millionen) gestrichen. Leverkusen verschönert seit 2011 den Stadtteil Opladen – und erspart der Kultur eine weitere Million. Leverkusen strebt einen ausgeglichenen Haushalt bis 2018 an – und droht der Kultur mit einem Minus von weiteren 1,4 Millionen und der Schließung des Museums nun endgültig den Garaus zu machen.
Die Museumsleitung darf zu alledem nichts sagen, hat von den Stadtoberen einen Maulkorb verpasst bekommen. Und doch gelingt ihr nächsten Sonntag ein denkbar passender Kommentar: eine neue Ausstellung – mit Werken von Richter und Polke. Ihr Titel: „Schöne Bescherung“.