Laborexperimente verändern die Ökonomie "Wer Gier beobachtet, wird selber gierig"

Der Kölner Top-Ökonom Axel Ockenfels über den Vormarsch von Laborexperimenten in der Wirtschaftswissenschaft – und die Bedeutung irrationalen Verhaltens auf unsere Entscheidungen.

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Bild von Axel Ockenfels Quelle: WirtschaftsWoche

WirtschaftsWoche: Professor Ockenfels, am 13. Oktober gibt die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften bekannt, wer in diesem Jahr den Nobelpreis für Wirtschaft bekommt. Könnte es diesmal ein experimenteller Forscher sein?

Axel Ockenfels: In den vergangenen Jahren gab es eine Reihe von Nobelpreisen an Wirtschaftsforscher, die zumindest teilweise experimentell arbeiten. Deshalb würde es mich nicht überraschen, wenn es auch dieses Jahr so sein wird.

Wer sollte den Preis bekommen – und warum?

Die Entscheidung würde mir schwerfallen. Ich bin froh, dass ich sie nicht treffen muss.

Der Laborökonom

Wie bewerten Sie die Stellung der Experimentalökonomie innerhalb der Wirtschaftswissenschaft? Haben wir es mit einer Boomdisziplin zu tun?

Es ist richtig, dass die experimentelle Wirtschaftsforschung in den vergangenen Jahren einen Aufschwung erlebte. Sie ist kein Orchideenfach mehr, sondern gehört heute selbstverständlich zur Wirtschaftswissenschaft.

Sie hinterfragen in Ihrer Forschung das Leitbild des Homo oeconomicus. Der Mensch sei nicht vollkommen rational und kein ausschließlicher Nutzenmaximierer – sondern werde auch von Fairnessmotiven, Altruismus und Neid in seinen Entscheidungen beeinflusst. Hat der Homo oeconomicus damit ausgedient?

Nein. Das Modell des Homo oeconomicus bietet gerade wegen seiner Einfachheit eine erste Orientierung. Viele Aspekte von Anreizen und Verhalten lassen sich damit gut verstehen. Doch es gibt auch Lücken im Modell. Oft gibt es ja mehrere rationale Strategien, unterschiedliche Motive ökonomischen Verhaltens und auch verschiedene Auffassungen über die Auswirkungen von Entscheidungen, die allesamt im Einklang mit Rationalverhalten stehen. Ohne weitere Unterfütterung läuft das Modell des Homo oeconomicus regelmäßig ins Leere. Zweitens sind Menschen natürlich nicht immer perfekt rational. Jeder weiß das. Weitere Landkarten, die das menschliche Verhalten vermessen, sind daher nötig. Es wäre unklug, sich in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik nur auf ein Modell zu verlassen.

Lässt sich unter diesen Umständen das Verhalten der Menschen überhaupt noch kalkulieren?

Ich denke, dass wir in einigen Bereichen qualitativ gut verstehen, was das Verhalten treibt. Wir wissen heute etwa wesentlich mehr über die Rolle sozialer Motive bei der Teamarbeit oder in Verhandlungen als noch vor ein oder zwei Dekaden. Aber es gibt auch noch viele weiße Flecken. Beispielsweise spielt für das Verhalten in modernen Märkten das Timing der Aktivitäten eine wichtige Rolle, doch der Zeitfaktor wird in vielen Modellen nicht zufriedenstellend berücksichtigt.

Was bedeuten diese Entwicklungen für die Wirtschaftswissenschaft?

Die Wirtschaftswissenschaft kann eine Menge von der Praxis lernen. Sie hilft uns, die relevanten weißen Flecken auf unseren Landkarten zu finden und schützt uns so vor einer Elfenbeinturm-Mentalität. Eine der resultierenden Entwicklungen ist, dass nicht mehr nur möglichst abstrakte und universell gültige Befunde für Ökonomen interessant sind, sondern auch die Besonderheiten einzelner Märkte und Organisationen in den Fokus geraten.

Wer Gier sieht, wird gierig.

Nach Erkenntnissen der Verhaltensökonomie beobachten Menschen auch das Verhalten ihrer Mitmenschen, um zu Entscheidungen zu gelangen. Sind die Menschen also von äußeren Einflüssen determiniert?

Ja. Es gibt eine Reihe rationaler und nicht rationaler Gründe, das Verhalten anderer bei eigenen Entscheidungen zu berücksichtigen. Dazu gehören Lernen und normkonformes Verhalten. Unsere Studien untersuchen solche Aspekte und bauen sie in die Modelle ein.

Wer Gier beobachtet, ist also geneigt, selber gierig zu werden?

Ja, wir neigen dazu, uns mit anderen Menschen zu vergleichen. Dies gilt nicht nur für Gier, sei es Geldgier oder Neugier, sondern in fast allen sozialen Kontexten. Menschen mögen es insbesondere nicht, hinter andere zurückzufallen. Die dem zugrunde liegenden evolutionären Gründe und kognitiven Mechanismen sind recht gut verstanden. Die Auswirkungen auf das Verhalten werden allerdings noch unterschätzt.

Lassen sich Menschen in Richtung Kooperation und Fairness steuern? Braucht es nur den richtigen Rahmen, der Handlungen vorstrukturiert?

Wenn das so einfach wäre, könnten wir einige große Herausforderungen unserer Zeit abhaken. Doch tendenziell stimmt es schon: Wer die Spielregeln macht, kann Verhalten lenken. Tatsächlich hat die Kooperationsforschung in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht. Zum Beispiel haben wir gelernt, wie sich in Auktionen eine unerwünschte Kooperation zwischen Bietern durch kluges Marktdesign verhindern lässt. Derlei Erkenntnisse darüber, was Kooperation erleichtert oder erschwert, hilft uns wiederum, in anderen Situationen für mehr Kooperation und Vertrauen zu sorgen.

Zum Beispiel?

Ein Beispiel ist die Schaffung von Spielregeln, die das Vertrauen zwischen Millionen anonymer Menschen in großen Internet-Märkten erleichtern können. Eine Stellschraube dabei ist die Kanalisierung von Informationen, die es den Akteuren erlauben, Kooperation möglichst genau zu identifizieren und etwa durch Weiterempfehlung zu belohnen. Der Impuls zu belohnen ist zwar auf rationaler Basis oft nicht zu erklären, aber tief im Menschen verankert. Gleichzeitig aber müssen wir Anreize vermeiden, kooperative Verhaltensmuster strategisch auszubeuten.

Wie akquirieren Sie eigentlich die Probanden für Ihre Experimente?

An der Universität zu Köln haben wir einen Pool von mehreren Tausend Studenten, die an Experimenten in Computerlaboren der Wirtschaftswissenschaft und Psychologie teilnehmen. In anderen Studien führen wir unsere Experimente mit Managern und anderen Marktakteuren im Feld durch.

Wie viele Probanden haben Sie im Schnitt pro Experiment?

Das ist sehr unterschiedlich. In Laborstudien sind in der Regel über 100 Versuchspersonen beteiligt. In Feldstudien variieren die Beobachtungszahlen von ein paar Dutzend bis zu einigen Tausend.

Was können Wirtschaft und Politik aus Laborversuchen lernen?

Experimente können helfen, zuverlässigere Verhaltensmodelle zu entwerfen, unsere Erkenntnisse in die Praxis zu kommunizieren und neue Ideen gewissermaßen im Windkanal zu testen. Praktiker lassen sich nämlich selten allein durch mathematische Beweise überzeugen. Die Internet-Ökonomie setzt experimentelle Methoden bereits im großen Maßstab ein, und einige andere Industrien ziehen nach.

"Ökonomischer Ingenieur"

Können Sie Beispiele für den Praxisbezug Ihrer eigenen Experimente geben?

In Köln beschäftigen wir uns mit einer großen Bandbreite von Themen, etwa mit Anreizsystemen und Produktionsmanagement in Unternehmen, mit Verhandlungen und Interaktionen auf Auktions-, Internet- und Strommärkten. Wir arbeiten interdisziplinär und setzen experimentelle und theoretische Methoden ein. Die Idee ist, die Herausforderungen wie ein „ökonomischer Ingenieur“ anzugehen.

Wie stark nutzt die Politik die Erkenntnisse von Verhaltensökonomen?

Viele Regierungen ziehen mittlerweile Verhaltensökonomen zu Rate. Auch das Bundeskanzleramt stellt Verhaltensökonomen ein. Anreizsysteme und nicht rationales Verhalten spielen ja auch in der Politik eine Rolle. In unserer Forschergruppe in Köln beschäftigen wir uns zum Beispiel mit der Frage, welche Anreize die Kooperation beim Klimaschutz erleichtern. Allerdings darf man nicht vergessen, dass Verhaltensökonomik und „Economic Engineering“ junge Disziplinen sind und die Politik ein komplexes Feld. Viele Fragen, die an uns herangetragen werden, lassen sich noch nicht robust beantworten. Es gibt viel Forschungsbedarf, und die großen Hoffnungen, die im Zusammenhang mit Politikberatung manchmal aufkommen, scheinen mir teils übertrieben.

Die Politik sucht womöglich auch die Hilfe von den Verhaltensökonomen, um zu lernen, wie sich die Bürger durch sanften Paternalismus konditionieren lassen – und etwa mehr auf ihre Gesundheit achten. Finden Sie eine solche psychologische Regierungsführung richtig?

Ich glaube, dass die Paternalismus-Debatte dem eigentlichen Beitrag der Verhaltensökonomik in der Politikberatung nicht gerecht wird. Es ist doch so: Die Politik verfolgt ihre Ziele mit Anreizen aller Art, und Menschen reagieren auf solche Anreize. Doch sie tun das nicht immer so, wie es unsere Intuition oder Lehrbuchmodelle nahelegen würden. Eine Politikmaßnahme, die bei rationalem Verhalten funktioniert, kann bei realem Verhalten versagen. Die Einbeziehung der Verhaltenswissenschaft hilft dabei, Verhaltensreaktionen auf Anreize besser zu verstehen und vorherzusagen. So kann sie Fehler vermeiden helfen. Eine offene Diskussion kann auch Manipulationen vermeiden. Es wäre daher fahrlässig, wenn die Politik bei der Umsetzung ihrer Ziele wissenschaftliche Erkenntnisse über das Verhalten ignorierte.

Kritiker werfen der Experimentalökonomie vor, sie habe kein theoretisches Fundament, und ihre Aussagen ließen sich nicht verallgemeinern. Was sagen Sie zu diesen Vorwürfen?

Es ist absolut der falsche Weg, alte Gräben zu vertiefen und verschiedene Methoden gegeneinander auszuspielen. Theorie und Experimente liefern Modelle der Welt, die sich gegenseitig ergänzen – aber keinesfalls gegenseitig ersetzen. Ich würde für reale Entscheidungen keiner Theorie vertrauen wollen, deren empirischer Gehalt nicht nachgewiesen ist – aber auch keinem Experiment, dem die theoretische Fundierung fehlt. Es ist an der Zeit, dass die Wirtschaftswissenschaft sich weniger an ihren Methoden aufreibt – sondern sich wieder stärker den Problemen widmet.

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