Lampenfieber Warum wir Angst vor der Blamage haben

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Die Angst vor der Angst

Die australische Musikprofessorin Dianna Kenny beschrieb vor einigen Jahren in einem Buch, wie Menschen sich von der „Angst vor der Angst“ regelrecht fertig machen lassen: Einer jungen Musikerin zitterten bei einem Konzert die Finger so arg, dass sie die Klaviertasten nicht mehr treffen konnte. Ein erfahrener Pianist musste eine Aufführung in der Londoner Royal Albert Hall fünf Minuten vor Vorstellungsbeginn hinschmeißen, weil er nicht mehr richtig einatmen konnte. 1994 wurde die „music performance anxiety“ sogar als offizielles Krankheitsbild durch die American Psychiatric Society klassifiziert.

Stage Fright gibt es auch im Privaten

Dabei klingt im Deutschen der Begriff Lampenfieber ja fast ein wenig putzig. Nach Angaben des Duden leitet er sich von der Beleuchtung auf einer Bühne ab, den sogenannten Rampenlichtern. Im Englischen klingt das schon weniger harmlos: „Stage Fright“, was übersetzt so viel heißt wie „Bühnenangst“.

Um dieses Thema dreht sich passenderweise gleich ein Dutzend Horrorfilme – der bekannteste von Alfred Hitchcock handelt von einem Mord in der kalifornischen Schauspielszene; im gleichnamigen Horror-Musical aus dem Jahr 2014 hat der Sänger Meat Loaf eine Nebenrolle und lässt die Geschichte mit einem blutigen Massaker auf der Bühne enden. Beide Filme spielen mit einer Art Worst-Case-Szenario des Lampenfiebers: dem tatsächlichen Sterben auf der Bühne. Denn den psychischen Tod kennen die Betroffenen ja bereits recht gut.

Auch im privaten Rahmen gibt es Beispiele für Auftrittsangst: Vor drei Jahren war ich auf der Hochzeit einer Freundin am Bodensee eingeladen. Die Tische auf der Terrasse des feinen Hotels waren mit schneeweißen Tischdecken geschmückt, die Sonne ging gerade unter und spiegelte sich in den Kristallgläsern, die Luft vibrierte von den Lachsalven und enthusiastischen Begrüßungen alter Freunde. Alles war perfekt – bis zu jenem Moment, an dem der Brautvater beschloss, eine Rede zu halten.

Tipps für die perfekte Rede

Der Mann, ein erfolgreicher oberschwäbischer Geschäftsmann, dem man jede Eloquenz und Redegewandtheit dieser Welt zugetraut hätte, wurde zunächst unnatürlich blass. Dann klopfte er an ein Glas und das fiepende Mikro („Äh, könnt ihr mich alle hören?“). Bereits bei der Begrüßung der Gäste verhaspelte er sich dreimal; räusperte sich nach jedem Wort so laut, als hätte er eine mittelschwere Halsentzündung; begann nur noch ziellos vor sich hinzustottern. Meine Freundin, inzwischen ebenso blass wie ihr Vater, trat irgendwann nach vorn, um ihn zu retten.

Der Mann errötete vor Scham und trank sein Champagnerglas in einem Schluck leer, keiner hätte in diesem Moment mit ihm tauschen wollen. Ihm blieben nur noch das Mitgefühl und die Sympathien der Gäste. Immerhin, auch das macht den Menschen als soziales Wesen aus: Er kann sich in die Situation des anderen hineinversetzen. Hätte der Brautvater den plötzlichen Aussetzer offen kommuniziert, hätte das sicher für Lacher anstatt peinlicher Stille gesorgt – und er hätte zurück in seine Rede gefunden.

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