Lampenfieber Immer dahin, wo die Angst ist

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Ein Teufelskreis des Zitterns

Da klagt ein Hornist über Lippenflattern, dem Geiger zittert die Bogenhand, gerade bei lang gehaltenen Pianissimo-Passagen, wenn er ohne Druck über die Saite streichen muss. Es kommt die typische Eskalationsspirale in Gang: Allein der Gedanke, dass die Hände zittern könnten, ruft ein Zittern hervor, das als bedrohlich empfunden wird und zusätzlich Angst erzeugt, die zur Ausschüttung weiterer Stresshormone führt, welche das Zittern noch mehr verstärken – ein Teufelskreis.

60 Prozent aller Musiker, so eine Schätzung des Berliner Psychoanalytikers Helmut Möller, sind von Aufführungsängsten betroffen. Trotzdem wird kaum darüber gesprochen. „Jeder Musiker sagt, dass er nervös sei vorm Auftritt“, so Schmidt, „aber die übersteigerte Form des Lampenfiebers wird tabuisiert – im Gegensatz zu organischen Erkrankungen.“ Warum? Weil Aufführungsangst als Schwäche gilt – ein Defizit, das an die Selbstachtung des Musikers rührt. Der Klarinettist eines Spitzenorchesters hat gefälligst zu liefern, wie der Spitzensportler, auf höchstem Niveau – ein selbst verordneter, tief verinnerlichter Perfektionsanspruch, der zu Überforderungsängsten einlädt.

Da wundert es nicht, dass unter Orchestermusikern der Konsum von Beruhigungsmitteln weitverbreitet ist. Wenn alles andere nichts mehr hilft, wenn, neben der exzellenten Vorbereitung auf das Stück, begleitende Maßnahmen wie Atemübungen, autogenes Training und kognitive Verhaltenstherapie ausprobiert worden sind, verschreibt Alexander Schmidt „ergänzend“ den Betablocker Propranolol. Ein blutdrucksenkender Wirkstoff, der die Wirkung des Stresshormons Cortisol eindämmt. Er beruhigt, vor allem: Er schützt vor beschämenden Zitterattacken.

„Lampenfieber zu haben ist ganz normal“, sagt der Pianist Grigori Sokolow, „wichtig ist, dass das Publikum es nicht bemerkt.“ Oder wie der Schauspieler Rudolf Platte es formulierte: „Lampenfieber ist der Versuch, so zu tun, als hätte man keins.“ Es ist diese Furcht vor der Bloßstellung, die den Musiker mit dem Top-Manager verbindet, der vor großer Kulisse auftreten muss. Seine größte Angst gilt dem sichtbaren Versagen, dem Offenbarwerden der Nervosität: Schon deshalb verwendet er einen Großteil seiner Energie darauf, sie zu verstecken.

Unfreiwillige Beichte

Doch anders als der Künstler, der gelernt hat, gutes Lampenfieber als Produktivkraft zu verstehen, erlebt der Manager es als lästige Begleiterscheinung, als Störfaktor in der Routine. Sein Lampenfieber öffentlich einzugestehen, so der an der Universität Witten/Herdecke lehrende Philosoph und Managerberater Jürgen Werner, käme für den Manager einer „Beichte“ gleich: Es hieße, sich „klein zu machen, aus seiner Sicht ohne Not“, und „an das zu erinnern, was er gerade vergessen möchte“ aus Scham vor der Öffentlichkeit und vor den Kollegen: die Angst vor dem Auftritt.

Der Versuch, das Lampenfieber abzuwehren, bringt es dann endgültig zutage: Der Redner verkrampft, er verhaspelt sich und muss im schlimmsten Fall abbrechen. Eine „unfreiwillige Beichte“, so Werner, die den Betroffenen im Zentrum trifft, denn er bekommt nun die Erfahrung serviert, dass „er nicht der ist, für den er gehalten werden möchte“. Im tiefsten Inneren weiß er natürlich von seiner Angst, aber „er möchte nicht, dass die anderen es wissen“.

Was er falsch gemacht hat? „Nichts falsch machen zu wollen“, so Jürgen Werner. Zu glauben, der Eindruck von Souveränität beruhe auf perfekter Kontrolle, womöglich auf Auswendiglernen. Die Manager, mit denen Werner rhetorisch und kommunikativ arbeitet, lernen durch gemeinsames Üben etwas anderes: Lampenfieber nicht nur in Kauf zu nehmen, sondern zu suchen, also die Nervositätsschwelle zu senken, Ungewissheit auszuhalten und eine Rede nicht bis aufs Komma vorzubereiten. Überzeugend zu reden heißt, die störende Selbstreflexionsspirale zu durchbrechen und das Publikum ins Zentrum zu rücken. „Das Glück in der öffentlichen Rede“, so Werner, „erlebt der Redner in dem Maße, wie es ihm gelingt, sich im Sprechen zu vergessen und mit dem Publikum ein Spiel zu spielen.“

Darin besteht nicht zuletzt die hohe Kunst des Fernsehmoderators: sich zurückzunehmen zugunsten der Sache, die er vermittelt. Ein Meister darin ist der Wissenschaftsjournalist Gert Scobel, der die Gäste seiner 3Sat-Sendung mit gleichschwebender Aufmerksamkeit im Gespräch hält und sie, wie nebenbei, zu Tiefbohrungen im Reich des Wissens einlädt.

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