Moral im Job "Es gibt keine Pflicht, sich für andere zu opfern"

Oft verschwimmen die Grenzen zwischen Richtig und Falsch. Damit Sie bei der Arbeit nicht ins Abseits geraten, erklärt Philosophie-Professor Christian Neuhäuser die größten moralischen Dilemmata aus dem Joballtag.

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Moral im Büro. Quelle: Getty Images

WirtschaftsWoche: Professor Neuhäuser, was mache ich, wenn mein Chef andere Mitarbeiter mobbt, zu mir aber weiterhin nett und professionell ist?
Christian Neuhäuser: In einer Gruppe kann ich mich nicht komplett vom Schicksal der anderen isolieren. Das gilt erst recht für das Team im Büro, weil diese Gruppe gemeinsam an Aufgaben arbeitet. Dadurch entsteht generell eine andere Verantwortung als zum Beispiel gegenüber jemand völlig fremdes, dem ich auf der Straße begegne.

Daraus folgt: Gerade wenn ich als einziger ein gutes Verhältnis mit dem Chef habe, muss ich es nutzen, um die Situation zu ändern.

Habe ich kein Recht auf Egoismus?
Ein Recht auf Egoismus gibt es aus moralphilosophischer Sicht nicht. Aber gleichzeitig gibt es auch keine Pflicht, sich für andere zu opfern. Ich darf abwägen: Wie groß ist der potenzielle Schaden für mich, wenn der Chef sich nachher auch gegen mich richtet, und wie schlimm ist das aktuelle Mobbing gegen die Kollegen? Wenn die negativen Konsequenzen für mich zu groß sind, ist es besser, einen anderen Weg zu suchen, zum Beispiel jemand aus einem anderen Team oder aus einer höheren Führungsebene dazu zu holen, damit er mit dem Chef spricht.

Zur Person

Und was soll ich tun, wenn ich in einem Unternehmen oder einer Abteilung arbeite, in der unmoralisches Verhalten zur täglichen Arbeit dazu gehört?
Viele Menschen stellen derartige Situationen vor große Konflikte, vor allem wenn sie ihren Job und die Kollegen eigentlich mögen. Daher ist die erste Reaktion oft: wegsehen und versuchen, mit dem unmoralischen Verhalten nicht in Berührung zu kommen. Doch sich von einem Verhalten zu isolieren, das in einem ganzen Unternehmen normal ist, ist nicht einfach und viele überschätzen ihre moralische Festigkeit dabei. Selbst wenn man von mir selbst nicht verlangt, etwas Falsches zu tun, und ich im Grunde in Ruhe meine Arbeit machen kann, besteht die große Gefahr, dass ich von dem Verhalten um mich herum langsam korrumpiert werde. Es kommt zu ähnlichen Rationalisierungsstrategien wie bei den eigentlichen Tätern.

Irgendwann nimmt man das falsche Verhalten nicht mehr als falsch war.
Genau. Daher ist die Antwort in diesem Fall am Ende klar: Man sollte das Unternehmen verlassen. Denn die eigenen moralischen Standards sind ein hohes Gut, das zu schützen sich lohnt. Moral ist es für viele Menschen nicht nur ein Luxus, sondern oft eng mit dem Selbstbild und der Vorstellung von einem guten Leben verknüpft.

Und wie verhalte ich mich, wenn ich mitbekomme, dass sich Kollegen unethisch verhalten?
Die Antwort scheint hier zunächst klar: Wenn ich sehe, dass etwas falsch läuft, muss ich es ansprechen oder melden.

Wir brauchen mehr Whistleblower

Aber Whistleblowing hat enorme Kosten.
Ja. Das wird in der Diskussion um Transparenz und Verantwortung der Mitarbeiter oft vergessen. Der Whistleblower ist in einer schwierigen Position, denn er steht alleine einer großen Gruppe gegenüber. Wenn falsches Verhalten beginnt und noch nicht aufgedeckt wurde, denkt die Mehrheit eben oft noch, dass das Verhalten nicht falsch, sondern völlig normal und in Ordnung ist. Der Whistleblower wird daher oft als Verräter wahrgenommen und nicht als mutiger Held, der Missstände aufdeckt.

Was raten Sie also?
Daher ist die Antwort nicht so eindeutig, wie es zunächst scheint. Denn auch der potenzielle Whistleblower hat eine Würde, die er schützen will. Aus moraltheoretischer Sicht ist das eine Abwägungsfrage: Welcher Schaden ist größer? Der für den Whistleblower, wenn er seinen Job verliert, oder der, den das fragwürdige Verhalten von Kollegen anrichtet?

Wo würden Sie die Grenze ziehen?
Wenn Menschenleben in Gefahr sind, zum Beispiel wenn ein Unternehmen gefährliche Giftstoffe nicht richtig entsorgt oder ein falsches Bauteil in einem Auto zu Unfällen führt. Aber darunter ist die Abwägung oft erstaunlich schwierig.

Das klingt fast so, als wollten sie Whistleblower entmutigen oder rechtfertigen, wenn Mitarbeiter wegschauen.
Im Gegenteil: Wir brauchen mehr Menschen, die sich trauen, zu melden, wenn etwas schief läuft. Es zeigt nur, dass Unternehmen mehr tun müssen, um sie gegen die Mehrheitsmeinung zu schützen.

Kommen wir zum Thema Gleichheit oder Gerechtigkeit. Müssen zwei Mitarbeiter, die die gleiche Leistung bringen, das exakt gleiche Gehalt bekommen?
Das intuitive Gerechtigkeitsbewusstsein sagt uns hier: Ja, wer die gleiche Arbeit macht, muss dafür auch gleich bezahlt werden. Das erste Problem, das sich jedoch dabei stellt ist, dass sich die Arbeitsleistung in den meisten Fällen nicht eindeutig messen und vergleichen lässt. Bei einigen Tätigkeiten wie zum Beispiel im Verkauf mag es noch Kennzahlen geben, die die Arbeitsleistung zumindest teilweise objektiv abbilden, aber bei vielen Berufen der Wissensarbeit lässt sich an das, was jemand pro Monat so macht im Büro, nur schwer ein Preisschild kleben.

Branchenindex 2016: Diese Branchen zahlen am besten

Wenn man Leistung objektiv messen könnte, wäre die Gerechtigkeitsfrage also gelöst?
Nein. In der Philosophie gibt es eine Debatte darüber, was „Verdienst“ überhaupt bedeutet. Für welche Dinge verdiene ich eine Belohnung? Leistungen generell und beruflicher Erfolg erst Recht hängen stark von Faktoren ab, für die man nicht selber verantwortlich ist.. Angeborene Talente zum Beispiel oder die Rahmenbedingungen, in denen man aufwächst. Selbst wenn am Ende zwei Mitarbeiter exakt die gleiche Leistung bringen, kann es sein, dass einer von ihnen eigentlich deutlich mehr Belohnung dafür verdient.

Zum Beispiel, weil er sich aus schwierigen Verhältnissen nach oben gearbeitet hat?
Ja. Das ist aber natürlich erst Recht schwer zu messen. Diese Messprobleme, die es bei leistungsabhängiger Bezahlung immer gibt, sind ein Grund, warum sich in vielen Unternehmen die Bezahlung vor allem nach Hierarchiestufen richtet. Wer weiter oben in der Hierarchie steht, so wird angenommen, leistet auch mehr und sollte daher auch mehr verdienen. Das heißt dann aber auch klar: Auf der gleichen Hierarchiestufe müssen Mitarbeiter auch in etwa gleich bezahlt werden.

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