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Neue Musik Mit Steuern gepäppelter Nischenbetrieb

Vor 100 Jahren sorgte sie für Entsetzen. Vor 50 Jahren wurde sie zum Bollwerk gegen die „Kulturindustrie“ aufgebaut. Heute ist sie vor allem ein einträgliches Gewerbe. Allein hören will die „Neue Musik“ noch immer keiner.

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Taktgefühl - Györgi Ligetis „Poème symphonique“ für 100 Metronome, die in unterschiedlichem Tempo ticken Quelle: Clemens Johannigmann

Ob Rebecca Saunders eine englische Komponistin ist, die ihre Heimat Deutschland liebt, oder umgekehrt eine deutsche Komponistin, die ihre Heimat England liebt, lässt sich nicht leicht entscheiden. Rebecca Saunders stammt aus London und lebt in Berlin. Die erste Hälfte ihres Lebens hat sie auf der Insel verbracht, die zweite hierzulande. Sie ist nicht der Liebe wegen nach Deutschland gekommen, eher aus Kalkül und Bestimmung. Deutschland ist das einzige Land, das für eine Fachkraft wie sie Verwendung hat. Nur hier kann Rebecca Saunders ihren Beruf nicht nur ausüben, sondern auch von ihm leben. Nur hier kann sie ihre Musik nicht nur schreiben, sondern auch hören. „Nur hier“, sagt Rebecca Saunders, „kann ich sein, was ich bin.“

Saunders komponiert seit 1991 „zweieinhalb bis dreieinhalb Stücke“ im Jahr. Sie hat mal versucht, mehr zu schaffen, doch darunter habe die Qualität gelitten. Bezahlt wird sie nach Genre und pro Konzertminute, 40.000 Euro sind es etwa für ein Bühnenwerk, 25.000 für ein Orchesterstück, 15.000 für eine Kammermusik und bis zu 5.000 für eine Solo-Partitur. Rebecca Saunders liegt damit im oberen Mittelfeld. Sie ist etabliert, hat einen guten Ruf, es mangelt ihr nicht an Anfragen. Zuletzt hat sie „Ire“ geschrieben, ein Konzert für Cello, Streicher und Perkussion. Eine Auftragskomposition – wie immer –, diesmal fürs Hamburger Ensemble Resonanz und „mit freundlicher Unterstützung der Ernst von Siemens Musikstiftung“; auch das britische Huddersfield Contemporary Music Festival hat ein paar Tausend Euro beigesteuert und sich damit das Recht der Uraufführung gesichert.

Zehn Hauptwerke der Neuen Musik

Ein paar Wochen später im November vergangenen Jahres wohnt Rebecca Saunders der deutschen Erstaufführung mit dem Ensemble Resonanz in der Kölner Philharmonie bei. Sie weiß, dass ihre populärsten Stücke es selbst in Deutschland auf kaum mehr als 20 Aufführungen bringen werden, „klar also, dass man seiner Musik zuweilen hinterherreist“. Das Ensemble Resonanz spielt neben Saunders „Ire“ an dem Abend „Wald“ von Enno Poppe und „amber“ von Oliver Schneller. Es sind drei große Namen der Szene. Es ist ein attraktives Programm. Es ist ein fesselnder Abend. Und doch verlieren sich nur ein paar Dutzend Freunde und Kollegen, vielleicht 400 Zuhörer im viel zu großen Saal. Sie lauschen interessiert und aufmerksam. Ihr Applaus ist angemessen, routiniert.

Zahlen zur "Neuen Musik"

Kein Aufreger mehr

Man kann nicht wirklich sagen, dass Neue Musik noch die Gemüter erhitzt. Erstens sind die meisten Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts längst kanonisiert; es gibt kaum mehr Konzertbesucher, für die die „klassische Musik“ mit Gustav Mahler endet. Shostakovich, Janacek und Henze stehen heute so selbstverständlich auf den Programmen der Konzertveranstalter und Opernhäuser wie Händelmozartverdiwagner. Zweitens aber ist Musik, in der (fast) alle Reste von Tonalität getilgt sind, bereits seit Jahrzehnten praktisch aus der Öffentlichkeit verschwunden. Für die überwältigende Mehrheit der Deutschen ist sie schlicht irrelevant. Man nimmt sie nicht zur Kenntnis. Man will sie nicht hören. Und man kennt auch ihre Großen und Größten nicht.

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