Ausgerechnet das wilhelminische Pickelhauben-Deutschland war ganz Avantgarde bei der Erfindung der Homosexualität? Kein Wunder also, dass auch der Neologismus „homosexuell“ eine Wortschöpfung aus dem deutschsprachigen Raum ist, die das Spezifikum gleichgeschlechtlicher Liebe „als eine unveränderliche Kondition und soziale Identität“ betonen sollte. Der Begriff taucht erstmals 1869 auf in einer Streitschrift des Schriftstellers und Jornalisten Karl Maria Kertbeny gegen das preußische Sodomie-Gesetz (1851). Darin hieß es: „Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren verübt wird, ist mit Gefängniß von sechs Monaten bis zu vier Jahren, sowie mit zeitiger Untersagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte zu bestrafen.“
Vorgearbeitet hatte Kertbeny der im ostfriesischen Aurich geborene Jurist Karl Heinrich Ulrichs (1825 – 1895), der als eigentlicher Pionier der Homosexuellenbewegung gilt: Er brachte seit 1862 unter Pseudonym zahlreiche Pamphlete in Umlauf, in denen er Männer, die Männer lieben, als „Drittes Geschlecht“ beschrieb, als Wesen, in denen eine feminine Seele gefangen sei, die befreit werden will. Sexuelles Anderssein, so Ulrichs, sei nicht durch Krankheit oder willentliche Perversion verursacht, sie sei vielmehr eine natürliche, angeborene Mitgift, die Respekt verdiene statt Bestrafung. Kurz: sie sei biologisch bedingt.
Im Sommer 1869 schrieb Ulrichs durch seinen Auftritt auf dem 6. Juristentag im Münchner Odeon Geschichte, als er sich vor der versammelten deutschen Juristenelite als Schwuler outete und ein flammendes Plädoyer für die Revision des preußischen Sodomie-Gesetzes hielt: Gleichgeschlechtliche männliche Liebe sollte straflos bleiben, wenn sie weder Rechte verletzt noch öffentliches Ärgernis erregt. Ulrichs konnte die Rede nicht zu Ende führen, er wurde niedergeschrien mit Rufen wie „Kreuzigen!“
Trotzdem, der Münchner Skandal machte Ulrichs zum „ersten öffentlichen Kämpfer für die rechtliche Emanzipation der Homosexuellen“. Das größte Verdienst seiner Kampagnen, so Beachy, bestand darin, dass er eine offene Debatte unter Medizinern und Juristen in Gang setzte und erstmals „ein Vokabular zur Beschreibung moderner sexueller Identitäten vorlegte“, das dazu beitrug, eine Gemeinschaft Gleichgesinnter zu schaffen.
Ohne Ulrichs Pionierarbeit wäre es 1898 nicht zur Gründung des „Wissenschaftlich-humanitären Komitees“ (WhK) in Berlin gekommen, das unter Leitung des Arztes und Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld seriöse Forschung mit Propaganda für die Sache der Homosexuellen verband. Hirschfeld strebte ein breites Bündnis der fortschrittlichen Kräfte an. Zur Gründungssitzung hatte er auch den Berliner Kriminalkommissar Leopold von Meerscheidt-Hüllessen eingeladen, einen mit der psychiatrischen Forschung seiner Zeit einigermaßen vertrauten Beamten, der durch seine Duldungspolitik gegenüber Schwulenbars und homosexuellen Maskenbällen bekannt geworden war: Um männliche Prostitution in der rasant wachsenden Reichshauptstadt besser unter Kontrolle halten zu können, suchte die Polizei die Kooperation mit einschlägigen Lokalen und Veranstaltern. Sie sollten nicht in den Untergrund abgedrängt werden, wo sie unsichtbar wurden für die Polizei. Auf diese Weise entstand bis 1900 ein knapp tausend Aufnahmen umfassendes polizeiliches Päderasten-Album, in dem männliche Prostituierte, Transvestiten und Männer, die sich an Kindern vergriffen, gelistet wurden.