Neues Buch von Robert Beachy Das schwule Berlin der Kaiserzeit

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Zeiten der Parallelbewegung


Der Nebeneffekt: Durch die polizeiliche Überwachung und den Schutz der Obrigkeit wurde die Voraussetzung dafür geschaffen, dass gleichgeschlechtliche Männer und Frauen sich ohne Angst vor Verhaftung zusammentun konnten, dass sich ein spezifisch homosexuelles Milieu entwickelte, dass ein spezielles Wir-Gefühl der Homo-Szene entstand, die bald als sextouristische Attraktion und wissenschaftliches Studienobjekt überregionale Ausstrahlung gewann. Die Szene wurde, wie Beachy erzählt, zur Begutachtung durch Journalisten, Schriftsteller und Psychiater freigegeben. Besuch in Sodom: Unter polizeilicher Führung konnte der Schriftsteller August Strindberg lustvoll angewidert die „perversen Typen der Hauptstadt“ beobachten und der Mediziner Iwan Bloch Anschauungsmaterial sammeln für seine Sexual-Studien. Bälle, auf denen Männer Frauenkleider trugen und von Touristen wie Polizisten bestaunt wurden, gehörten bald zum „normalen“ Bild des Nachtlebens im Vorkriegsberlin.

Für die Unterwelt der Straßenstriche und Bordellbetriebe hingegen gab es weniger Pardon. Das Hauptproblem war die Erpressbarkeit aufgrund des Paragrafen 175 StgB, vor allem bei Männern der Mittel- und Oberklasse. Wer vor Gericht seine Unschuld bezeugte, musste, wie der Berliner Kaufhausbesitzer Hermann Israel, damit rechnen, dass eine „Parade von Strichjungen“ gegen ihn aussagte. Israel nahm sich das Leben, „auf den Tag genau drei Jahre nach Krupps Tod“, wie Beachy vermerkt. Bei aller obrigkeitlichen Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlichen Lokalen und Vergnügungsstätten hatten Homosexuelle Grund, vorsichtig zu sein. Es gab vergleichsweise wenige Verhaftungen und Anklagen; trotzdem, jeder dritte Homosexuelle in Berlin, so die Schätzung von Magnus Hirschfeld, sei einmal erpresst worden.

Das schillerndste Beispiel für die Parallelbewegung von Ächtung und Popularisierung der Homosexualität, von ihrer Skandalisierung und Liberalisierung im wilhelminischen Berlin war zweifellos die so genannte „Eulenburg-Affäre“: „Mehr als jedes andere Ereignis oder jede Publikation verbreitete und popularisierte (sie) die Vorstellung, dass es eine homosexuelle Identität gab“, so Beachy.  Eulenburg, persönlicher Freund von Wilhelm II. und Zentralfigur des kaiserlichen Beraterkreises  „Liebenberger Tafelrunde“, war 1906 aus politischen Gründen ins Visier des Journalisten Maximilian Harden geraten, der mit unglaublich intriganter Energie die vita sexualis seines Kontrahenten benutzte, um Eulenburg zu erledigen.

Am Anfang von Hardens Kampagne standen Artikel, die auf die „warmen Brüder“ der Tafelrunde anspielten und weitere Personen wie Eulenburgs engsten Freund Kuno von Moltke in juristische Auseinandersetzungen verwickelten, bald darauf Duellforderungen und Verleumdungsklagen – und am Ende (1909) ein von Harden angestrengter Meineidprozess gegen Eulenburg, der mit dem gesundheitlichen Zusammenbruch des Angeklagten und dem vollständigen Entzug seiner Auszeichnungen endete. Allein zum Hauptprozess gegen Eulenburg waren 60 Zeugen geladen, und die Zeitungen wussten fast täglich über neue delikate Details zu berichten: über „homosexuelle Orgien“ in Offiziersvillen,  „gegenseitige Masturbationen“ – und über einen entsetzten Kaiser („Denken Sie, unser Edgar ist auch ein solches Schwein.“). Auch die ausländischen Medien weideten sich an den „abartigen“ Sitten in Berlin-Sodom – und blickten mit ungläubigem Staunen auf die Entstehung eines „neuartigen Freimaurertums von Homosexuellen“ in Deutschland.

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