Philosoph Wilhelm Schmid Gelassenheit ist eine Frage der Übung

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Wir leben in einer Zeit des Aktivismus

Verstehen Sie Ihr Buch auch als Einübung in das, was wir hinnehmen müssen, weil wir es nicht ändern können?

Können wir das Älterwerden ändern, gar abschaffen? Die Anti-Aging-Vertreter versuchen den Eindruck zu erwecken. Sie versprechen ein erfolgreiches Altern. Dabei endet Altern eigentlich immer erfolgreich.

Schon, aber auf dem Weg dorthin müssen wir einiges einstecken.

Eben. Ich bin fern davon, die Zipperlein und die Schrecklichkeiten des Älterwerdens zu übersehen. Im Gegenteil, ich schaue ihnen ins Auge. Wir kommen aus den Windeln und wir schlüpfen wieder in sie zurück. Ich habe mehr als zehn Jahre nebenbei als Seelsorger in einem Krankenhaus gearbeitet, mit Alten- und Demenzabteilung. Ich weiß, wie schwierig es ist, die Dinge hinzunehmen, wie sie sind. Aber noch einmal: Ich schreibe niemandem etwas vor. Wenn jemand nichts hinnehmen möchte, dann soll er halt nichts hinnehmen. Wer gegen den Tod protestieren will, soll es meinetwegen tun. Es scheint mir nur, dass das keine verträgliche Weise ist älter zu werden.

Es gibt viele ältere Leute, die mit dem Älterwerden nicht gelassener, sondern unduldsamer, aggressiver werden. Wäre nicht auch als Untertitel Ihres Buchs „Was wir verlieren, wenn wir älter werden“ möglich gewesen?

Darüber, was wir verlieren, gibt es Bücher in Hülle und Fülle. Dabei ist das einzige, was wir verlieren, das Leben. Sonst eigentlich nichts. Danach könnte es ein anderes Leben geben. Daran glauben aber viele moderne Menschen nicht. Die Lebenszeit ihres einzigen Lebens wird aber immer knapper, wo sie doch noch so viel vorhaben. Das erzeugt Stress. Stress macht unduldsam und aggressiv.

Eine Anleitung, wütend zu werden, ist wahrscheinlich viel leichter zu schreiben, als ein Plädoyer für die Gelassenheit – woran liegt das?

Da ist eine Menge Kraft ganz von selbst da. Ich habe selbst zuallererst ein ziemlich wütendes Manuskript über das Älterwerden geschrieben. Einziges Überbleibsel davon ist die Bemerkung im Vorwort meines neuen Buchs, ich wolle kein Wutgreis werden. Dann habe ich mich in Gelassenheit versucht, das fand ich schöner.

Warum fällt uns die Gelassenheit, obwohl wir sie theoretisch loben, praktisch so schwer?

Weil wir nicht in einer Zeit der Gelassenheit leben. Im Gegenteil: Wir leben in einer Zeit der Umtriebigkeit, des Aktivismus, des Optimismus – in dem Glauben, dass alle Probleme der Welt und des Lebens sich mit wissenschaftlichen Mitteln lösen lassen. Ich bin aber zutiefst davon überzeugt, dass das ein Irrtum ist. Viele Dinge lassen sich verbessern, aber die größten Probleme können wir nicht aus der Welt schaffen.

Gelassenheit als Rückzug von der Welt und ihren Problemen?

Ich kenne den Vorwurf, der mir gemacht wird: Mit allem einverstanden zu sein. Nein, ich bin nicht mit allem einverstanden, nicht mit Putin und nicht damit, dass bei uns Altersarmut droht. Ich bin auch nicht damit einverstanden, dass die ökologische Zerstörung unseres Planeten weiter geht, und tue das meine, um daran etwas zu ändern, aber nicht mit grimmigem Blick und mit fletschenden Zähnen. 

Herr Professor Schmid, Sie leben, wie ich einer biographischen Notiz in Ihrem Buch entnehme, als freier Philosoph in Berlin und  sind außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt. Warum blenden die akademischen Philosophen systematisch jene Grundfragen des Lebens aus, die Sie seit Jahren mit so großem Erfolg bearbeiten?

Weil sie die Lebensrealität generell ausblenden. Beginnend mit der Lebensrealität, dass sie bezahlt werden von der Gesellschaft und keine Lust haben, dafür auch zu liefern. Es steht jedem frei nicht zu liefern. Aber dafür Geld einzufordern von den Menschen, für die man nicht liefert, finde ich reichlich unverschämt.

Die Universitätsphilosophie verfehlt ihr Thema?

Es hat ja Gründe, warum die Lehrstühle für Philosophie in den vergangenen zehn Jahren um die Hälfte zusammengestrichen worden sind.

Weil uns die Professoren nichts mehr zu sagen haben?

Richtig. Das heißt nicht, dass es uninteressant sei, was sie machen. Aber das sollen sie doch bitte schön privat machen. Ihren öffentlichen Auftrag verfehlt die akademische Philosophie.

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