Nichts liegt weiter voneinander entfernt als das Lächerliche und das Schreckliche. Aber in dieser Woche fiel beides zeitlich zusammen. Virtuelle Taschenmonsterjagd mit Pokémon Go auf der einen Seite und ganz realer Massenmord aus religiösem Wahn in Nizza andererseits. Das sind wohl die äußersten Pole der Informationswelt, in der wir Gegenwartsmenschen leben dürfen und müssen.
Diese Welt verwirrend zu nennen, ist noch stark untertrieben. Man muss kein Dummkopf sein, um an ihrer Kompliziertheit und dem fortschreitenden Verlust der Sicherheiten jeglicher Art zu leiden. Die zumindest zeitweise Flucht in den kindlichen Unernst ist in einer solchen Welt eine attraktive Option. Vielleicht ist das ein Teil des Erfolgsgeheimnisses der App Pokémon Go.
Hunderttausende mehr oder weniger Erwachsene jeden Alters haben nun einen Grund gefunden, noch viel mehr Zeit als zuvor schon mit ihren handlichen Minicomputern zu verbringen. Wegen der Jagd auf die Fantasie-Tierchen kam es bereits zu Autounfällen, in Niedersachsen liefen drei Jugendliche ins Spiel vertieft in militärisches Sperrgebiet und brachten sich in Lebensgefahr.
„Pokémon Go“: Kleine Kampf-Monster erobern die Welt
Es ist das erste Mal, dass man „Pokémon“ auf dem Smartphone spielen kann. Der japanische Spiele-Anbieter Nintendo brachte die beliebten Figuren bisher nur in Games für die hauseigenen Konsolen heraus. Inzwischen jedoch wechseln immer mehr Spieler auf Smartphones und Nintendo konnte diesen Trend nicht mehr ignorieren.
„Pokémon“ ist eine Wortbildung aus „Pocket Monster“ - Taschenmonster. Zum ersten Mal tauchten sie 1996 in einem Spiel in Japan auf. Die „Pokémon“ sind darauf versessen, gegeneinander zu kämpfen. Der Spieler fängt sie als „Pokémon-Trainer“ mit Hilfe weiß-roter Bälle ein und bildet sie aus. Im „Pokémon“-Universum gibt es mehr als 700 Figuren. Die beliebteste dürfte „Pikachu“ sein - ein kleines gelbes Monster mit einem Schwanz in der Form eines Blitzes. Neben den Videospielen blüht ein gewaltiges Geschäft mit Sammelkarten und allen möglichen anderen Fanartikeln von Plüschfiguren bis Brotdosen.
Im Grunde geht es auch hier darum, „Pokémon“ zu fangen und dann gegeneinander antreten zu lassen. Der Clou ist jedoch die Standort-Erkennung (GPS) auf dem Smartphone. Die „Pokémon“ verstecken sich an verschiedenen Orten - und ein Spieler sieht sie nur, wenn er in der Nähe ist. Dann werden die Figuren auf dem Display des Telefons in die echte Umgebung eingeblendet („Augmented Reality“). In den USA, Neuseeland und Australien sammelten sich schon große Menschenmengen an Orten mit populären „Pokémon“ an. Die kleinen Monster reagieren auf die virtuelle Umgebung: So tauchen Wasser-Pokémon besonders häufig in der Nähe von Flüssen oder Seen auf.
Es wurde gemeinsam entwickelt von der Nintendo-Beteiligung Pokémon Company und der ehemaligen Google-Tochter Niantic Labs. Letztere hatte unter dem Dach des Internet-Konzerns das ebenfalls auf Ortungsdaten basierte Spiel „Ingress“ programmiert. In ihm kämpfen zwei Lager um virtuelle Portale, die an verschiedenen Orten platziert wurden.
Der Massenerfolg des Spielchens und der mediale Hype machen daraus mehr als eine App. Pokémon Go ist ein soziales Phänomen. Wir erleben uns als eine Gesellschaft, in der ein Kinderspiel zum Zeitvertreib und Smalltalk-Thema Nummer Eins avancieren kann. Die virtuelle Schnitzeljagd entlarvt eine kollektive Sehnsucht nach dem Unernst der Kindheit.
Das Phänomen der Infantilisierung ist nicht neu, aber dank fortschreitender Möglichkeiten der Kommunikationsmittel erreicht es immer neue Höhepunkte. Ein erster war 1996 der Boom des Tamagotchi. Wie Pokémon ein japanisches Produkt. Japan ist wohl die infantile Führungsnation der Welt. Diese Spitzenposition eroberte sich das Land schon in den 1970er Jahren mit der Erfindung des Kätzchens Kitty-Chan („Hello Kitty“), das viele erwachsene Japanerinnen an ihren Handtaschen und Mobiltelefonen mit sich herumtragen. Gesellschaften, die immer weniger Kinder zur Welt bringen, kompensieren diesen Mangel offenbar, indem die Erwachsenen selbst immer öfter das Bedürfnis haben, sich wie Kinder zu benehmen.
Erwachsensein ist anstrengend
Und sie tun das ja nicht nur, indem sie Pokémons jagen. Die Verkindlichung ist auch ein politisches Phänomen. Es spricht, wie der Philosoph Peter Sloterdijk im aktuellen "Handelsblatt" schreibt, „einiges dafür, dass demnächst Parteienforscher mit Kinderpsychologen einen gemeinsamen Studiengang gründen.“
Der Zeitdiagnostiker mit dem Hang zu metaphorisch ausgedrechselten Sätzen sieht den Erfolg von Populisten, Berlusconi und Sarkozy als Ergebnis der „Neigung von Wählermassen in Demokratien, sich in die Bedürfnisse von unernsten Politikern einzufühlen, die zu ihrer Selbstverwirklichung ein Riesenspielzeug wie eine Nation brauchen.“
Kindheit – das bedeutet die Sicherheit, zu wissen, was gut und was böse ist. Nämlich das, was Mutter und Vater gut heißen oder verbieten. Kind sein heißt nicht mündig sein. Erwachsenwerden, also der Erwerb von Mündigkeit, ist der Verlust dieser Sicherheit. Das ist ein Prozess, der im Gegensatz zur körperlichen Reifung den freien Willen des Individuums voraussetzt. Erwachsenwerden ist kein Selbstläufer, sondern harte, schmerzhafte Arbeit. Die Weltliteratur ist voller Zeugnisse davon: Parzival, Wilhelm Meister, Demian – die müssen alle leiden an sich und der Welt, bis sie erwachsene Menschen sind.
Man kann die Aufklärung und die neuere Geschichte Europas als einen kollektiven Prozess des Erwachsenwerdens verstehen. „Aufklärung“, so Kant in seinem wohl berühmtesten Satz, „ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ Selbstverschuldet. Ja, aber die politischen Rahmenbedingungen spielen dabei eine gewaltige Nebenrolle.
Wer von Mündigkeit und Aufklärung spricht, rührt damit stets auch an Fragen der Macht. Kinder und unmündige Menschen lassen sich leichter beherrschen als aufgeklärte, erwachsene Menschen. Wer herrschen will, hat ein Interesse daran, seine Beherrschten offen – oder noch raffinierter: verdeckt – zu Kindern zu erklären. In den monarchischen Staaten der Vergangenheit sprach man nicht zufällig von „Landeskindern“, die einem „Landesvater“, in der Regel eben dem Monarchen, fürsorglich anvertraut waren.
Mit solchen Reden ist heute, 223 Jahre nachdem die aufmüpfigen französischen Landeskinder ihren Vater, den König, geköpft haben, keine Macht mehr zu legitimieren. Das heißt aber nicht, dass der Kantsche Mut, "sich seines eigenen Verstandes zu bedienen“, seither nicht mehr notwendig wäre. Kindliche Gemüter sind auch in postmodernen Gesellschaften leicht zu beherrschen.
Und daher sind die infantilen Unmündigen, wie Sloterdijk feststellt, der Hauptadressat der postdemokratischen Praxis der „asymmetrischen Demobilisierung“: Der Regierende, der nicht will, dass sich der wahlberechtigte Bürger über Alternativen zu seiner Regierungspraxis allzu viele Gedanken macht, wird sich über dessen Kindliches Desinteresse nicht beschweren.