Pokémon Go Wir sind eine Gesellschaft der großen Kinder

Weil die Welt immer komplizierter wird, wächst in westlichen Gesellschaften der Bedarf nach kindlichem Unernst. Den Regierenden dürfte das gelegen kommen.

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Pokémon Go: Das Augmented-Reality-Spiel hat einen Hype ausgelöst. Quelle: dpa Picture-Alliance

Nichts liegt weiter voneinander entfernt als das Lächerliche und das Schreckliche. Aber in dieser Woche fiel beides zeitlich zusammen. Virtuelle Taschenmonsterjagd mit Pokémon Go auf der einen Seite und ganz realer Massenmord aus religiösem Wahn in Nizza andererseits. Das sind wohl die äußersten Pole der Informationswelt, in der wir Gegenwartsmenschen leben dürfen und müssen.

Diese Welt verwirrend zu nennen, ist noch stark untertrieben. Man muss kein Dummkopf sein, um an ihrer Kompliziertheit und dem fortschreitenden Verlust der Sicherheiten jeglicher Art zu leiden. Die zumindest zeitweise Flucht in den kindlichen Unernst ist in einer solchen Welt eine attraktive Option. Vielleicht ist das ein Teil des Erfolgsgeheimnisses der App Pokémon Go.

Hunderttausende mehr oder weniger Erwachsene jeden Alters haben nun einen Grund gefunden, noch viel mehr Zeit als zuvor schon mit ihren handlichen Minicomputern zu verbringen. Wegen der Jagd auf die Fantasie-Tierchen kam es bereits zu Autounfällen, in Niedersachsen liefen drei Jugendliche ins Spiel vertieft in militärisches Sperrgebiet und brachten sich in Lebensgefahr.

„Pokémon Go“: Kleine Kampf-Monster erobern die Welt

Der Massenerfolg des Spielchens und der mediale Hype machen daraus mehr als eine App. Pokémon Go ist ein soziales Phänomen. Wir erleben uns als eine Gesellschaft, in der ein Kinderspiel zum Zeitvertreib und Smalltalk-Thema Nummer Eins avancieren kann. Die virtuelle Schnitzeljagd entlarvt eine kollektive Sehnsucht nach dem Unernst der Kindheit.

Das Phänomen der Infantilisierung ist nicht neu, aber dank fortschreitender Möglichkeiten der Kommunikationsmittel erreicht es immer neue Höhepunkte. Ein erster war 1996 der Boom des Tamagotchi. Wie Pokémon ein japanisches Produkt. Japan ist wohl die infantile Führungsnation der Welt. Diese Spitzenposition eroberte sich das Land schon in den 1970er Jahren mit der Erfindung des Kätzchens Kitty-Chan  („Hello Kitty“), das viele erwachsene Japanerinnen an ihren Handtaschen und Mobiltelefonen mit sich herumtragen. Gesellschaften, die immer weniger Kinder zur Welt bringen, kompensieren diesen Mangel offenbar, indem die Erwachsenen selbst immer öfter das Bedürfnis haben, sich wie Kinder zu benehmen.

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