Prokrastination Keine Angst vorm Aufschieben

Prokrastination: Warum das Aufschieben auch förderlich sein kann Quelle: Getty Images

Prokrastination hat einen schlechten Ruf – völlig zu Unrecht. Denn aktuelle Forschung zeigt: Nicht jede Form des Vertagens ist schädlich.

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Manche brauchen viele Worte, andere nur wenige Striche. Tim Urban zum Beispiel kann mit einer schnellen Skizze verdeutlichen, was in seinem Kopf nicht stimmt. Er sei ein chronischer Aufschieber, erzählte der US-Autor und Betreiber des Blogs „Wait but why“, dessen Texte 100.000-fach gelesen werden, bei seiner Rede auf der Ideenkonferenz Ted im Jahr 2016.

Zur Erklärung projizierte Urban eine selbst gemalte Zeichnung auf die Leinwand. Hinter seiner Stirn sitze ein rationaler Entscheider am Lenkrad, der ausschließlich auf die größte Zufriedenheit zusteuere. Daneben warte ein kleines Äffchen mit breitem Grinsen in Lauerstellung. Und just dann, wenn der Entscheider Urban dazu bringen will, einen neuen Artikel zu verfassen, werde der Affe aktiv.

Er reißt am Steuerrad und schickt Urban in Richtung Amazon, um Socken zu kaufen; danach zu YouTube, um Videos anzuschauen; und lasse ihn anschließend seine digitalen Fotos neu sortieren. Der Affe tut alles, um eine sofortige Belohnung zu erhalten und jede Anstrengung zu vermeiden. Und irgendwie hat er auch recht. Warum sollte man sich abmühen, wenn der Abgabetermin noch in weiter Ferne liegt? Erst wenn der Zeitdruck kaum noch erträglich ist, gibt der Affe Ruhe.

Den meisten Menschen geht es irgendwann wie Tim Urban: Sie müssten eigentlich etwas Wichtiges erledigen. Dennoch entgleitet ihnen immer wieder die Kontrolle darüber, ob und wann sie es angehen. In zwei Tagen ist die Steuererklärung fällig? Statt Belege zu sortieren und sich wieder in die Feinheiten der Gewinn- und Verlustrechnung zu stürzen, putzt man das Bad oder entrümpelt den Keller. Eigentlich sollte im Büro ein Meeting vorbereitet, eine Präsentation gebaut oder ein Bericht geschrieben werden? Lieber blättert man durch die scheinbar unendlichen Bilderreihen von Instagram oder hangelt sich von einem Wikipedia-Artikel zum nächsten. Alles typische Symptome der Prokrastination.

Schon die Definition gibt ihr einen bitteren Beigeschmack. Psychologen bezeichnen damit ein Verhalten, bei dem die Betroffenen Aufgaben vertagen, obwohl sie sich der negativen Konsequenzen völlig bewusst sind. Und tatsächlich: Wer es übertreibt, kann wichtige Fristen nur dank Nachtschichten und Überstunden einhalten.

Doch gilt das für jede Art des Aufschiebens? Ist man zwangsläufig selbst schuld, wenn man Aufgaben hinauszögert? Und sollte man sich dafür wirklich schämen? Mitnichten. Denn tatsächlich zeigen aktuelle Studien von Arbeitswissenschaftlern und Verhaltensforschern: Entscheidend ist nicht, ob man etwas vertagt – sondern wie. Unter Umständen kann das Aufschieben sogar nützlich sein.

Sofortige Belohnung

Zunächst muss man verstehen, warum Menschen prokrastinieren. Die ökonomische Erklärung ist simpel: Sie bewerten die sofortige Belohnung einer Ablenkung höher als eine zukünftige, die allerdings erst einmal Arbeit erfordert.

Doch diese Abwägung fällt nicht bei jedem gleich aus. Einerseits hat die Persönlichkeit einen erheblichen Einfluss auf die Neigung zum Aufschieben. Mehrere Studien zeigen: Wer besonders gewissenhaft ist, prokrastiniert weniger; wer emotional instabiler ist, tut es öfter. Eine Untersuchung des Verhaltensgenetikers Daniel Gustavson von der Universität von Colorado kam im Jahr 2014 sogar zu dem Schluss, dass das Aufschiebeverhalten zur Hälfte genetisch bedingt ist.

Andererseits spielt der Kontext eine große Rolle. „Menschen prokrastinieren mal mehr und mal weniger, abhängig von der jeweiligen Situation“, sagt Roman Prem. Der Psychologe, der an der Universität Wien und der FH Oberösterreich forscht, hat das in einer Studie in diesem Jahr untersucht. Dazu wertete er mit Kollegen die Arbeitstagebücher von 110 Angestellten über zwölf Tage hinweg aus. Darin sollten die Versuchsteilnehmer ihren Job bewerten und berichten, ob sie an diesem Tag wichtige Aufgaben verschoben hatten.

Das Ergebnis fasst Prem so zusammen: Wenn eine Situation kein Vergnügen bereitet, weil sie nicht herausfordernd ist oder den eigenen Zielen im Weg steht, neigen Menschen stärker zum Aufschieben. „Je eher die Tätigkeit aber zu Kreativität und Problemlösen auffordert, desto weniger prokrastiniert man“, so der Forscher.

Wer prokrastiniert, ist selten faul, sondern sehr aktiv

Wer nun aber denkt, dass jeder aufschiebende Arbeitnehmer für seine Faulheit und damit sein Unglück selbst verantwortlich ist, dem sei zunächst gesagt: Jemand, der prokrastiniert, ist selten faul, sondern sehr aktiv – bloß ist seine Tatkraft letztlich fehlgeleitet. Dazu kommt im Arbeitsleben eine wichtige Einschränkung: Selten definiert man die eigene Tätigkeit selbst, meistens kommen die Aufträge von oben.

Und die sind mitunter zu vage und allgemein formuliert. „Wer den Weg zum Ziel nicht kennt, schiebt die Aufgabe deshalb öfter weg“, sagt Johannes Hoppe. Der Psychologe erforscht diesen fremdgesteuerten Teil des Prokrastinierens an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er kennt viele Fälle von Betroffenen, die sich in eine Abwärtsspirale begeben und sich einbilden, nicht gut genug zu sein – und dadurch das Problem verstärken. „Man gibt sich selbst die Schuld“, sagt Hoppe, „obwohl auch die Führungskraft verantwortlich ist.“

In einer kürzlich veröffentlichten Studie entdeckte der Psychologe einen Ausweg. Hoppe riet Studenten und deren Betreuern, bei anstehenden Abschlussarbeiten gemeinsam konkrete Ziele und Fristen festzulegen – und das reduzierte die Aufschieberitis. „So können auch Vorgesetzte ihre Mitarbeiter unterstützen“, sagt Hoppe.

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Doch in manchen Fällen kann es sogar ratsam sein, Dinge bewusst zu vertagen. In einer Arbeitswelt, in der hinter jeder erledigten Aufgabe immer gleich die nächste wartet und jede beantwortete Mail von zwei neuen ersetzt wird, ist Aufschieben eine wichtige Form des Priorisierens. Prokrastination kann außerdem eine Auszeit verschaffen, um den mentalen Akku wieder aufzuladen.

Mehr noch: Wer eine kreative Aufgabe aufschiebt, kommt derweil auf ganz neue Ideen. Davon ist zum Beispiel der US-Finanzprofessor und Autor Frank Partnoy von der Universität von San Diego überzeugt. In seinem Buch „Wait“ plädiert er dafür, Entscheidungen so lange wie möglich hinauszuzögern, weil man dann im Optimalfall mehr Informationen zur Verfügung hat. Und natürlich kann eine nahende Abgabefrist den entscheidenden Energieschub liefern, um die Aufgabe konzentriert anzugehen.

Bei allen Vorteilen des Vertagens ist es aber wichtig zu merken, wann Verhalten schädliche Formen annimmt – denn Prokrastinieren kann auch zur Qual werden. Der amerikanische Autor Andrew Santella widmet sich der Vielschichtigkeit des Phänomens in seinem kürzlich erschienenen Buch „Soon“. Auf der Suche nach einer Rechtfertigung für seinen eigenen Hang zum Hinauszögern beschäftigte er sich mit Menschen, die trotz (oder gerade wegen) dieser Eigenschaft Großes erreichten: Leonardo da Vinci, Charles Darwin, Georg Christoph Lichtenberg oder Frank Lloyd Wright.

Santella glaubt: Prokrastination ist in Wahrheit der Versuch, die Zeit zu manipulieren, indem man Aktivitäten von einer konkreten Gegenwart in eine abstrakte Zukunft verschiebt. Er sieht die Neigung zum Verdaddeln als „eine der größten Gaben, die der menschliche Geist zu bieten hat“.

Dennoch ist er sich darüber im Klaren, dass jede dieser Zeitreisen einmal enden muss. „Was für ein Traum es doch wäre, wenn man zweimal existieren könnte“, schreibt er, „sodass man zu jeder Zeit beides wählen könnte: fleißig und faul, Draufgänger und Prokrastinierer.“

Diesen Widerspruch so leicht aufzulösen wird genau das bleiben: ein Traum.

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