Psychologie Die rieselnde Angst vor dem eigenen Ungeschick

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"Champion muss schon sein"

Weil gut sein heute immer auch heißt: Vielleicht nicht gut genug?

Richtig. Trotz relativ komfortabler Positionen breitet sich in der Mitte eine Stimmung der Verbitterung aus. Man hat - im Vergleich mit anderen - ständig den Eindruck, sich mit einem der hinteren Plätze zufrieden geben zu müssen, also zu den Verlierern zu gehören. Daher auch der nagende Neid gegenüber denen, die im Rampenlicht stehen. Selbst beim deutschen Mittelstand sprechen wir heute von „hidden champions“. Mit anderen Worten: Champion muss schon sein. Unter "Nummer eins" will es in Deutschland keiner mehr machen.

Die Angst vor dem eigenen Ungenügen ist das eine. Was aber ist mit dem Unbehagen an Big-Data und am Bankenkapitalismus? Handelt es sich auch hier um eine rieselnde Angst?

Unbedingt. Die Angst vor dem Kapitalismus und den Aktivitäten der NSA haben sich in etwas rein Atmosphärisches, in vollendete Stimmung verwandelt. Andernfalls hätten sie zu Verhaltenskonsequenzen geführt. Fakt aber ist: Wir schreiben weder weniger Mails noch haben wir unsere Bank gewechselt. Die meisten haben das Gefühl: „Da ist was faul, aber ich will mich nicht damit beschäftigen, es ist mir alles zu kompliziert.“ Dabei ist es gar nicht so kompliziert. Man könnte das alles schon verstehen - wenn man denn wollte.  

Statt dessen richtet man sich lieber in seiner Angst ein und schimpft aufs System? 

Die Angst vor dem Daten- und Finanzsystem ist die Angst, von einem System verschlungen zu werden, dem man sich freiwillig ausgeliefert hat. Diese Situation bezeichne ich als Niemandsherrschaft, deren Paradox darin besteht, dass alle sich ihr unterwerfen. Die Stimmung des Anti-Kapitalismus führt zu nichts - und soll es auch nicht. Warum wird Sahra Wagenknecht in alle möglichen Talk-Runden geladen? Doch nicht, weil sie besonders schlaue Sachen sagen würde. Sondern weil sie dieser Stimmung Ausdruck verleiht.

Wie kann die Politik, ohne Ressentiments zu schüren, auf diese Stimmung der Angst reagieren?

Wir kennen zwei Varianten. Für die erste, die staatsmännische, steht Franklin D. Roosevelt, der in der Zeit der Großen Depression die Angst zum Thema der Politik gemacht hat. Er sagte den Amerikanern: „Ich wende mich an Euch, weil ich weiß, dass ihr Angst habt. Und schaut mich an: Ich bin jemand, der mit eurer Angst umgeht, das ist mein Delegat, mein Versprechen.“ Mit Roosevelt hat sich die moderne Politik in die Hand der Angst begeben: „The only thing we have to fear is fear itself.“

Und die zweite Variante?

Das ist die Politik der Amtsinhaberin. Angela Merkel würde nie über Ängste sprechen. Sie beschäftigt sich lieber mit den anstehenden Problemen und ihrer politischen Steuerung. Erfahrungen, die Angst auslösen könnten, werden von ihr systematisch ausgeklammert.

Immerhin, das wirkt beruhigend auf das Publikum.

Sicher, Angela Merkel ist eine hervorragende Politikerin für den Augenblick. Sie fährt „auf Sicht“, das heißt, sie verfolgt eine Politik, die es erlaubt, den Affekten Raum zu geben und sie beherrschbar zu machen. Damit punktet sie. Aber ein bisschen mehr staatsmännischer Mut wäre vielleicht angesagt. 

Finden Sie?

Denken Sie etwa an die hohen Erwartungen, die neuerdings an Deutschland gestellt werden. Da stelle ich fest: Die Deutschen haben Einflussangst. Es bereitet uns Unbehagen, dass unsere Nachbarn deutsche Antworten auf die Frage erwarten, wohin sich Europa und die Welt in den nächsten 20, 30 Jahren entwickeln sollen. Wir sind nicht darauf vorbereitet, dass wir uns politisch anders als reaktiv verhalten können. Denn wer Türen aufstoßen soll, muss von der Angst sprechen. Es gibt kein Jenseits der Angst. Nur wer Angst hat, hat auch Hoffnung. 

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