Psychologie Warum wir doch keine Egoisten sind

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Zunächst beobachteten ihn die Knirpse kritisch. Als ihnen jedoch dämmerte, dass der Mann es alleine nicht schaffen würde, tappten die Kleinkinder zum Schrank und öffneten ihm die Tür. Dasselbe Verhalten zeigten die Babys, wenn es darum ging, einen Stift aufzuheben oder einen Schwamm zurückzubringen: Jedes Mal boten sie dem Fremden ihre Hilfe an. Einfach so. Ohne Gegenleistung.

Das Resultat ist deshalb so bemerkenswert, weil kleine Kinder noch nicht dazu fähig sind, aus reinem Kalkül zu handeln – auch wenn konservative Wissenschaftler jahrzehntelang eine andere Meinung vertraten.

So ging der englische Philosoph Herbert Spencer im 19. Jahrhundert etwa davon aus, dass es im Sinne der Evolutionstheorie für jedes Lebewesen unsinnig sei, sich um Schwächere zu kümmern. Es gab nur zwei Alternativen: fressen oder gefressen werden. Alle kämpfen gegen alle, und der Stärkste setzt sich durch.

Dacher Keltner, Psychologieprofessor der US-Hochschule Stanford, hält das inzwischen für ausgemachten Unsinn. Das Gegenteil sei richtig: „Der Netteste überlebt“, sagt er in Anlehnung an Spencers Theorie.

Auf dem Campus der amerikanischen Eliteuniversität entstand erst vor wenigen Monaten ein Institut für die Erforschung von Mitgefühl und Altruismus – gemeinsam mit dem Dalai Lama. Dabei geht es den Wissenschaftlern allerdings nicht um buddhistischen Gleichmut, naives Gutmenschentum oder chronische Harmoniesucht. Vielmehr sammeln sie Beweise dafür, dass Selbstlosigkeit nicht nur normal, sondern auch lohnenswert ist.

Wohliges Gefühl

Das geht schon bei uns selbst los. Als der amerikanische Hirnforscher Jorge Moll im Jahr 2006 19 Studenten in einen Kernspintomografen schob, machte er ihnen zugleich ein attraktives Angebot: ein Geldgeschenk in Höhe von etwa 100 Euro.

Erwartungsgemäß erhöhte sich daraufhin sofort die Aktivität des mesolimbischen Systems, des sogenannten Belohnungszentrums im Gehirn.

In dem anschließenden Versuch sollten sich die Probanden nun allerdings vorstellen, die gesamte Summe für einen wohltätigen Zweck zu spenden. Und siehe da: Wieder sprang das Belohnungszentrum an. Mehr noch – jetzt reagierte sogar ein Teil des präfrontalen Cortex, der bei Menschen für Aufmerksamkeit und Zuneigung zuständig ist.

Mit anderen Worten: Unser Gehirn belohnt uns, wenn wir Gutes tun.

Hilfe auf eigene Kosten

Altruistische Taten aktivieren demnach im Körper dieselben Bio-Schaltkreise wie eine Tafel Schokolade oder guter Sex. Bei manchen Menschen reicht es sogar aus, wenn sie bloß dabei zusehen, wie jemand etwas geschenkt bekommt – und schon verschaffen ihnen die Hormone ein wohliges Gefühl.

Wie stark dieser Mechanismus motivieren und Selbstlosigkeit glücklich machen kann, weiß André Borsche nur zu gut. Der plastische Chirurg ist seit 1995 Chefarzt am Krankenhaus in Bad Kreuznach. Ein Job, der ihn zeitlich voll auslastet. Sollte man meinen.

Doch Borsche ist außerdem seit elf Jahren Vorsitzender von Interplast-Germany. In der gemeinnützigen Organisation engagieren sich Chirurgen für mittellose Patienten in der Dritten Welt. Regelmäßig operieren sie Kinder und Erwachsene in Asien, Afrika und Südamerika – auf eigene Kosten.

Insgesamt 30 Auslandsreisen hat Borsche so schon absolviert, für jede einzelne hat er sich privaten Urlaub genommen.

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