Richard David Precht "Unser System steht auf der Kippe"

Seite 2/3

Aussenminister und Vizekanzler Quelle: dapd

Was denn?

Meistens werten wir das Urteil der Anderen ab oder beurteilen es als nicht relevant. Ich erinnere mich da etwa an meine eigene Schulzeit: Kam ich mit einer vier nach Hause, habe ich meine schlechte Note immer versucht, mit dem schlechten Klassendurchschnitt zu relativieren. Oder mich mit ausführlichen Hinweisen auf Mitschüler, die gar eine fünf oder sechs hatten, in ein gutes Licht zu setzen. Und wenn mich meine Eltern nach den Schülern mit der zwei oder eins gefragt haben, hatte ich meist auch eine ausweichende Erklärung parat, warum ich auf keinen Fall so gut abschneiden konnte wie die. Man findet immer eine Ausrede.

Warum verhalten wir uns so?

Weil wir relativ schlecht damit umgehen können, an etwas Schuld zu sein, Vertrauen missbraucht oder etwas schlecht gemacht zu haben. Hat ein anderer was verbockt, ist der 'ne dumme Nuss. Aber das Bild von uns selbst lügen wir uns gern mal zurecht. Wir neigen dann zum Verdrängen. Aber das ist auch gut so.

Warum ist es nicht besser, sich der Wahrheit zu stellen?

Würden wir ständig an uns selbst zweifeln, würden wir verrückt, könnten keine Nacht mehr ruhig schlafen und keine Entscheidungen treffen. Wer sich ständig hinterfragt, kann keinen Bissen mehr essen ohne darüber nachzudenken, wie viele Kinder in diesem Moment auf der Welt sterben. Wer so gestrickt ist, hat auf Dauer auch nicht das Zeug zum Chef. In so einer Position muss man in der Lage sein, sich selbst mal in die Tasche zu lügen.

Oder sich was in die Tasche zu stopfen – wie jüngst in der Finanzkrise. Die ist doch der beste Beleg dafür, dass der Egoismus regiert.

Letztlich wurde die Krise ausgelöst durch wenige, selbstsüchtige Menschen. Und wenn man solchen Menschen die unbegrenzte Möglichkeit zum Missbrauch gibt, nutzen sie das aus. Wie es aussieht, werden nette Altruisten eher selten Spitzenbanker. Das System der Finanzwelt filtert offenbar die Sympathischsten aus. Umgekehrt gibt das auch Anlass zum Optimismus: Die wenigen, die die Krise auf dem Gewissen haben, sind nicht repräsentativ für die Masse der Menschheit.

Was hätten Sie erwartet: Dass die Banker von sich aus auf Boni verzichten?

Nicht wirklich. Wenn man in so einem derart hoch kompetitiven Umfeld arbeitet, bedingt das bestimmte Charaktereigenschaften. In so einer Horde wird der Egoismus geradezu gezüchtet, da gehört er zu den Spielregeln einfach dazu. Aber letztlich gilt das für das gesamte System des Kapitalismus.

Das uns in den vergangenen 200 Jahren einen nie gekannten Wohlstand verschafft hat...

Völlig d’accord. Der Kapitalismus ist das mit Abstand erfolgreichste Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das wir je hatten.

Wo ist also das Problem?

Von den Fünfzigerjahren bis etwa Mitte der Neunzigerjahre galt: Was den Unternehmen nützt, kommt auch der Bevölkerung zugute. Im Zeitalter der Globalisierung...

...von der viele Deutsche profitiert haben...

...was ich nicht bestreite – ist der Kapitalismus mittlerweile vor allem ein Moralzehrer. Marktnormen kannibalisieren Sozialnormen und das System damit sich selbst. Damit ist die Selbstvernichtung des Kapitalismus gewissermaßen systemimmanent.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%