Romantik in Zeiten der Digitalisierung Der Boom der Balzapps schadet dem Flirt

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Es muss eine harmonische Spannung bleiben

Der Wiener Evolutionsbiologe Karl Grammer ist dem Phänomen mit akademischer Akkuratesse auf den Grund gegangen, durch Beobachtungen im Experiment. „Signale der Liebe“ heißt sein Hauptwerk, in dem er mit einem verbreiteten Vorurteil aufräumt: Es sind in der Regel nicht die Männer, sondern die Frauen, die beim Flirt den ersten Schritt machen.

Da genügt es oft schon, dass sie sich in der Nähe der „Zielperson“ aufhalten, am Kaffeeautomaten oder am Nebentisch – siehe Tschechow –, um beim Mann erotische Unternehmungslust und „Sprache“ zu „produzieren“.

Ansonsten sind Mimik und Gestik, also nicht sprachliche Signale, bewährte Lockmittel und Instrumente weiblicher Wahl: Ein freundlicher, interessierter Blick, ein Heben der Brauen, ein verstohlenes Lächeln, ein Schräglegen des Kopfs, ein freundliches Nicken signalisieren Aufmerksamkeit. Zugleich aber, und darin besteht der subtile Charme, lassen sie offen, ob mehr daraus wird – und wenn ja, was.

Flirten lässt immer Rückzugsmöglichkeiten

Das bedeutet aber auch, dass die harmonische Spannung zwischen Spiel und Ernst unaufgelöst bleibt, ja bleiben muss. Zwar ist der Fluchtpunkt jedes Flirts das Interesse an Sex, genauer: an sexueller Reproduktion. Doch das heißt noch lange nicht, dass Sex in jedem Fall beabsichtigt ist. Es kann auch Spaß machen, bloß so zu tun – auch bei Menschen, an denen wir gar kein sexuelles Interesse haben. Ein geschickter Spielzug kann selbstbelohnend wirken, auch wenn das Ziel im Dunkeln bleibt.

Flirtforscher Grammer spricht treffend von „Grauzonen unseres Verhaltens“: Der Flirter verschleiert systematisch seine Absichten. Mehr noch: Er zeigt ein Verhalten, das für sich genommen gar nicht als Flirt identifizierbar ist. Deshalb kann die Flirtabsicht auch jederzeit dementiert werden. Damit verbleiben wenigstens Rückzugsmöglichkeiten, falls es die Situation erfordert.

Wie bei der Ironie sagt der Flirter dann das Gegenteil davon, was er eigentlich sagen will. Er wendet sich „zufällig“ einer anderen Frau zu als der, auf die er es tatsächlich abgesehen hat. Darin, so Grammer, liegt die Essenz des Flirts: Er changiert zwischen Zufall und zielgerichteter Handlung, ist zweideutig bis zur Selbstverneinung, bis in die Feinheiten der Mimik hinein. Ähnlich ist es beim Lächeln, das mit gleichzeitiger Blickvermeidung einhergeht. Stets lenkt der Flirt von seinen Absichten ab, kommuniziert indirekt, spielt mit verdeckten Karten, tut so, als sei er gar nicht das, wofür man ihn hält.

Ein Machtspiel mit ungewissem Ausgang

Es ist daher kein Zufall, dass der Flirt, so flüchtig, beiläufig und unverfänglich er daherkommt, besonders in Situationen des Unterwegsseins gelingt, zum Beispiel im Zugabteil. Der Soziologe Tilman Allert spricht von der „Logik der Reisebekanntschaft“. Entscheidend für die Kontaktanbahnung sei das „gegenseitige Interesse bei gleichzeitiger Unverbindlichkeit“, die „antizipierte Folgenlosigkeit“. Sie beflügelt die Fantasie, auch die Selbstdarstellungsbereitschaft. Weil wir unseren Gesprächspartner, anders als im Büro, mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht wiedersehen werden, können wir uns gefahrlos auf ein Geplauder einlassen, das womöglich zum Flirt wird. Seine Voraussetzung ist Fluidität.

Gerade das „In-Between“ der Passage, die wir, wie Allert sagt, als eine „Auszeit des Lebens wahrnehmen“, weckt unsere Unternehmungslust. „Beim Flirt“, so Allert, „spielen beide Seiten mit Selbstdarstellungsoptionen, aber diese Optionen sind nicht grenzenlos. Der Flirt impliziert wenigstens die Möglichkeit, die Eventualität des Ernstfalls“ – das kleine Vielleicht.

Genau das hat der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel gemeint. Der große Erforscher des modernen Lebens beschrieb den Flirt als die Gleichzeitigkeit von Ja und Nein, von Haben und Nichthaben, von Zuwendung und Wegwendung, von Sich-Geben und Sich-Zurücknehmen. Am Beispiel weiblicher Koketterie zeigte er, dass man sich dem Reiz dieses Spiels überlassen kann, ohne wünschen oder fürchten zu müssen, dass der „einmal begonnene Weg“ auch zum definitiven Ziel führt.

Aber Simmel entdeckte gleichzeitig noch etwas anderes. Hinter dem Flirt verbirgt sich in Wahrheit gleichzeitig ein Machtspiel mit offenem Ausgang. Man könnte auch sagen: eine Provokation. „Vielleicht kannst du mich erobern“, will die Flirtende uns sagen, „vielleicht nicht – versuche es!“

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