Rückenschmerzen "Der Rücken ist Ausdruck unserer Psyche"

Viele Deutsche klagen über Schmerzen im Kreuz. Dabei ist bei vielen der Rücken eigentlich in Ordnung und viele Operationen unnötig, sagt der Mediziner Martin Marianowicz im Interview.

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Viele Deutsche klagen über Schmerzen im Kreuz. Dabei ist bei vielen der Rücken eigentlich in Ordnung und viele Operationen unnötig, sagt der Mediziner Martin Marianowicz. Quelle: obs

WirtschaftsWoche: Herr Marianowicz, die Höhe des Krankengeld hat sich seit 2006 verdoppelt. Eine der wichtigen Ursachen sind Rückenleiden. Haben wir wirklich so viel mehr Rückenbeschwerden?

Martin Marianowicz: Ja, haben wir. Das ist meine klare Einschätzung nach 30 Jahren als Orthopäde.

Woran liegt das?

Da gibt es zwei große Faktoren. Der erste ist, das unsere Arbeits- und unsere Freizeitwelt tatsächlich rückenfeindlicher geworden ist als es früher war. Eigentlich sollte man meinen, dass durch den Rückgang schwerer körperlicher Arbeit, die Rückenbelastung weniger geworden ist. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Der zweite Teil ist, dass Rückenschmerzen und insbesondere chronische Rückenschmerzen, die die höchsten Kosten verursachen, nicht einmal eine Veränderung am Rücken voraus setzen.

Zur Person

Die Menschen, die Rückenschmerzen haben, sind gar nicht organisch krank?

Der Rücken ist auch Ausdruck unserer Psyche. Schmerzen werden im Kopf wahrgenommen. Es gibt zwei erschütternde Zahlen: Von den 70jährigen haben 92 Prozent einen Bandscheibenvorfall und nahezu alle Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule. Das heißt: Die haben physische Veränderungen aber keinen Schmerz.

Und die andere Zahl?

Von den Menschen, die Schmerzen haben, besitzen je nachdem welche Quellen sie lesen, zwischen 60 bis 80 Prozent gar keinen Befund. Ihr Rücken ist also eigentlich in Ordnung. Diese Zahlen zeigen die Problematik. Wir sind so gepolt, dass wir denken, einem Rückenschmerz geht eine Erkrankung des Rückens voraus. Aber das ist einfach nicht so. Ein Organ ist aber immer bei der Entstehung von Rückenschmerzen beteiligt und das ist das Gehirn.

Alltagstipps für einen starken Rücken

Es arbeiten immer weniger Menschen in Deutschland an körperlich fordernden Berufen, aber viele an Schreibtischen. Diese klagen häufig über Rückenprobleme. Haben die heutigen Mitarbeiter, die am Schreibtisch tätig sind auch mehr Rückenleiden als die Menschen vor 20 Jahren?

Eindeutig ja.  Der Bürojob hat sich ja noch weiter automatisiert. Wenn sie früher einen Bürojob hatten, dann mussten sie mal aufstehen, um zu kopieren, einen Brief wegzubringen oder eine Akte in den Schrank zu legen oder rauszuholen. Das fällt immer weiter weg. Die Folge: Sie sitzen noch längere Stunden, ohne sich zwischendurch zu bewegen. Heute müssen viele Menschen gar nicht mehr aufstehen für Ihre Arbeit.

Dafür gibt es immer mehr Activity Tracker, die einen dazu auffordern.

Ganz genau. Für den Rücken ist das dauerhafte Sitzen das Schlimmste von allem. Wenn Sie sechs bis sieben Stunden sitzen, dann unterbinden sie in der Zeit den Stoffwechsel des Rückens. Und das ist sicher ein Grund für die Zunahme der echten Rückenkranken. Es werden nicht nur die tragenden Strukturen des Rückens nicht versorgt, sie haben auch eine Unterentwicklung der Muskulatur. Das ist ein geniales eingespieltes System, aber das braucht nicht nur einen guten Knochen. Der gute Knochen nützt gar nichts, wenn er nicht von einer guten Muskulatur unterstützt wird. Da sind wir wieder bei der Freizeitwelt.

Was machen wir da falsch?

Da machen wir auch immer weniger Dinge mit Bewegung. Auch bei Jugendlichen ist das leider so, dass sie ihre Freizeit immer mehr sitzend verbringen. Da wird noch eine Riesenlawine auf uns zukommen.

Was gut tut, ist richtig

Schmerzfrei bei der Arbeit
Wiederholen Sie diesen Bewegungsablauf möglichst fünfmal zu jeder Seite: 1) Sie sitzen wieder aufrecht an der Stuhlkante und drehen den Oberkörper langsam und so weit wie möglich abwechselnd nach links und nach rechts. Die Arme sind angewinkelt und werden ebenso wie der Kopf mitgeführt. 2) In der Mittelposition einatmen, beim Drehen ausatmen. Quelle: GU, Nicolas Olonetzky
Auch diese Bewegung wiederholen Sie am besten fünfmal: 1) Sie sitzen wieder aufrecht auf der Stuhlkante, die Beine sind mehr als schulterbreit auseinander. Die Hände hängen zwischen den Beinen. 2) Nun rollen Sie sich von oben nach unten ein und gehen mit dem Oberkörper ganz langsam nach unten. Danach rollen Sie sich langsam in die aufrechte Position zurück. 3) In der aufgerichteten Position und beim Aufrollen einatmen, beim Abrollen ausatmen. Quelle: GU, Nicolas Olonetzky
Wiederholen Sie diesen Bewegungsablauf langsam und entspannt fünf- bis zehnmal: 1) Setzen Sie sich nach vorn auf die Stuhlkante und richten Sie Ihre Wirbelsäule auf. Der Bauchnabel zieht leicht nach innen, sodass das Becken nach vorn geht. 2) Gehen Sie dann wieder in eine entspannte Sitzhaltung zurück. 3) Beim Aufrichten einatmen, beim Entspannen. Quelle: GU, Nicolas Olonetzky
Diese Bewegung wiederholen Sie am besten fünfmal zu jeder Seite: 1) Sie sitzen wieder aufrecht auf der Stuhlkante, die Arme hängen seitlich locker am Körper. 2) Beugen Sie sich nun so weit wie möglich erst zur einen und dann zur anderen Seite. Dabei zieht der Arm auf der jeweiligen Seite in Richtung Boden. 3) In der aufgerichteten Position einatmen, beim Beugen ausatmen. Quelle: GU, Nicolas Olonetzky
Die Übungen sind dem Buch "Den Rücken selbst heilen" entnommen. Quelle: GU, Nicolas Olonetzky

Sie haben nun ein Buch veröffentlicht mit dem Titel „Den Rücken selbst heilen“. Sie sagen, 80 Prozent aller Operationen an der Wirbelsäule sind überflüssig. Es ist weder das erste Buch zu dem Thema, noch sind die Übungen, die sie empfehlen neu. Warum braucht es noch so ein Buch?

In der Tat, es gibt Dutzende Bücher mit Übungen, die gibt es in vielen Zeitschriften und die sind ja auch gut. Aber das allein wird dem Problem nicht gerecht. Die Menschen müssen verstehen, dass sich der Ausdruck eines Rückenschmerzes nicht reduzieren lässt auf ein Röntgenbild. Die Menschen verstehen das oft nicht, die zucken nur noch mit den Achseln, nachdem sie beim x-ten Arzt waren und die zehnte Therapie nicht angeschlagen hat.  Mein Buch richtet sich an Menschen, die verzweifelt sind, die von Arzt zu Arzt gelaufen sind und unheimliche Kosten verursachen und nichts davon hilft. Es ist wichtig, das Stigma zu durchbrechen. Es gibt jene Patienten, da finden sie im Kernspintomographen eine Ursache und jene, da kann der Arzt nichts entdecken ­– aber für unser System sind beide gleich krank. Und von der Selbsteinschätzung sind auch beide gleich krank, denn Rückenschmerzen sind eine Selbsteinschätzung. Mir geht es darum, eine Basis zu geben für psychosomatische Schmerztherapie. Angst ist ein Riesentherapie vom Schmerzgefühl.

Wer ist für Sie eigentlich rückenkrank? Jemand mit einer feststellbaren Abnutzung oder Bruch?

Für mich ist jeder ein Rückenkranker, der von sich sagt, er habe Schmerzen im Rückenbereich und er leide. Ein Rückenproblem ist für mich nicht, wenn es bei einem Menschen irgendwo mal im Rücken ziept. Erst wenn der Mensch sagt, ich leide, dann beginnt für mich die Rückenkrankheit. Dann muss ich erforschen, bis zu welchem Grad es ein organisches Problem ist und zu welchem Grad nicht. Aber Muskelverspannungen, die auch zu Rückenschmerzen führen, können Ursachen haben wie Überlastung und Stress. Da kommen sie mit einer Operation nicht weit.

Sie geben Tipps zur Ernährung und ausführliche Hinweise zu verschiedenen Meditationstechniken, die üblicherweise nicht Teil der Schulmedizin sind und von Krankenkassen zum Beispiel auch nicht bezahlt werden.

Das ist das Fatale – aber in der Rückenmedizin gilt, dass alles recht hat, was hilft. Wenn eine ältere Dame zu mir sagt, dass es ihr gut tut, wenn sie Quarkwickel bekommt, dann hat sie recht. Dann muss ich ihr nicht sagen, dass das nicht sein kann. Wenn ein Patient sagt, ihm helfe etwas, dann ist das richtig. Deswegen habe ich mich aller Dinge bemächtigt, von denen ich aus 30 Jahren Erfahrung weiß, dass viele Menschen berichten, dass es ihnen damit besser geht.

Früher waren es Infektionskrankheiten wie Cholera – heute sind es Diabetes, Demenz oder Herzleiden. Grund sind oft Stress oder Bewegungsmangel. Welche Krankheiten heute verbreitet sind, lesen Sie hier.

Nun steigt die Zahl der Rückeneingriffe dennoch kontinuierlich und sie gehört zu den häufigsten Operationen in Deutschland. Wer möchte die denn? Der Patient oder der Arzt?

Ein Skandal. Ja. Unser System hat es geschafft, die Wahrheit zu verschleiern. Langsam ändert sich die Wahrnehmung und woher kommt die Änderung? Nicht aus dem Gesundheitssystem selbst, sondern durch die Medien. Die Menschen werden aufgeklärt und kritischer. Es hat erst sehr lange gedauert, bis man den Menschen vermitteln konnte, dass Rückenprobleme mit Operationen behoben werden. Ganz früher wurden Rückenschmerzen konservativ behandelt. Das hat etwa 50 Jahre gedauert, bis die Menschen eine Operation als normale Methode ansahen. Ich brauche heute manchmal fünf bis zehn Minuten, um zu erklären, dass ein Bandscheibenvorfall als Diagnose nicht gleichbedeutend ist mit einer Operation. So weit hat es das System geschafft. Der Bandscheibenvorfall ist die klassischste aller orthopädischen Behandlungen und die Domäne der Konservativen. Daraus ist eine der häufigsten Operationen Deutschlands geworden.

Fünf unauffällige Gymnastikübungen fürs Büro
Rücken-Übung: Der Kopfdreher (Lockerung & Mobilisierung von Hals und Nacken) Quelle: Presse
Rücken-Übung: Der Schwan (Lockerung & Mobilisierung von Hals und Nacken) Quelle: Presse
Rücken-Übung: Die Babyschaukel (Lockerung & Mobilisierung der Wirbelsäule) Quelle: Presse
Baum (Haltung und Balance) und Baum umarmen (Dehnung des Rückens) Quelle: Presse
Zurücklehnen (Entspannung) Quelle: Presse
Spazierengehen Quelle: dpa

Aber wer ist denn nun Schuld? Patient oder Arzt?

Die Patienten wollen es deswegen, weil es Ihnen so beigebracht wurde. Er vertraut dem Arzt. Und er will eine schnelle Lösung. In einem technisch geprägten Land ist die vermeintlich mechanische Lösung des Problems etwas, das den Menschen einleuchtet. Von diesen vielen Operationen, die wir haben, ist aber jede zweite erfolglos! Nicht, weil sie schlecht gemacht ist. Nein – nicht erfolgreich, weil der Patient sagt: „Es geht mir nicht besser.“ Das ist nicht erfolgreich. Erfolgreich ist nur, wenn der Patient sagt: „Es geht mir besser.“ Da hilft es nicht, wenn das Bild aus dem Kernspintomographen zeigt, dass die vermeintliche Ursache gelöst würde. Die Ärzte haben selber natürlich ein Interesse an Operationen. Die operierenden aber auch zum Teil diejenigen, die nicht selber operieren.

"'Da werden Sie vielleicht keine Kinder haben können'. - das wirkt."

Warum?

Sie müssen sehen, dass ein konservativ behandelnder Arzt wirtschaftlich kaum überleben kann. Und es gab sicher Vergütungsnetzwerke, wo es besser war, einen Patienten einzuweisen als ihn zu behandeln. Unser Vergütungssystem zwingt einen fast wider jede Vernunft zur Operation. Umsätze können sie nur generieren durch operative Tätigkeiten. Ein konservativ behandelnder Orthopäde bekommt für einen Kassenpatienten keine dreißig Euro im Quartal. Eine Operation bringt ein Mehrfaches. Es besteht über keine Verhältnismäßigkeit mehr zwischen konservativer Behandlung und Operation. Deswegen sehen wir diese Entwicklung. Die Krankenhausbetreiber üben zusätzlich Druck aus, dass möglichst viel operiert wird. Viele große Krankenhäuser können nur überleben, wenn sie eine große orthopädische operative Abteilung haben. Mit der Kindermedizin verdienen sie kein Geld. Wenn ich manche Verträge von Kollegen in meinem Alter sehe, dann lesen sich die wie Verträge von Autohändlern  in einem großen Autohaus. Da gibt es Targets, die vereinbart werden, Boni für Überschreitungen. Die großen Krankenhausbetreiber haben sicher kein Interesse, daran etwas zu ändern. Andernfalls kann ich nicht verstehen, warum da nicht irgendwann einmal an den Schrauben gedreht wird.

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Kann der Patient selber einschätzen, ob eine OP nötig ist und sie gegebenenfalls ablehnen?

Der Patient geht zunächst mal zum Arzt, nicht weil er misstrauen will, sondern weil er vertraut. Das ist die Grundeinstellung des Menschen. Es geht ja keiner zum Arzt, weil der denkt, dem glaube er nicht. Ich bin ein konservativ behandelnder Arzt, aber wenn ich wollte, bekomme ich den Patienten zur OP.

Wie das?

Dazu muss man im Kopf behalten, dass nach allen gängigen Definitionen der chronische Rückenschmerz ein Schmerzleiden ist. Das Symptom selber wird zur Krankheit. Wenn sie in diesem Gebiet umgehen, dann müssten sie besser mit dem Wort umgehen können als mit dem Messer. So werden die jungen Mediziner aber gar nicht ausgebildet. Wenn sie Dinge sagen wie „Au, wie schaut denn Ihr Rücken aus!“, „Da werden Sie mal im Rollstuhl landen.“

Oder „Da werden Sie vielleicht keine Kinder mit haben können.“ – das wirkt. Das wird ja alles den Patienten erzählt. „Wenn Sie ein Unfall beim Skifahren haben, dann sind Sie vielleicht querschnittgelähmt.“ Wenn sie Schmerzen bei einem Patienten dauerhaft verfestigen wollen, dann sagen Sie genau solche Sachen. Es ist etwas ganz anderes, als wenn sie sagen: „So schauen Rücken in Ihrem Alter halt aus. Aber jeder zweite läuft so ohne Schmerzen. Warum sollten Sie nicht dazugehören?“. Dann habe ich eigentlich schon mehr therapiert als wenn ich dem ein Messer reinstecke.

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