Schlafmanagement So gefährlich ist Schlafentzug – nicht nur für die Ampel-Politiker

Bundeskanzler Olaf Scholz Quelle: imago images

Die Ampel-Koalition verhandelte mehr als 20 Stunden über strittige Themen. Schlafmediziner Ingo Fietze warnt vor solchen Marathonsitzungen und der vermeintlichen „Kameltechnik“.

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Kurze Nächte sind für Spitzenpolitiker nichts Ungewöhnliches, doch die Ampel-Koalition hat nun einen Rekord geknackt: mehr als 20 Stunden verhandelten die Spitzen seit Sonntagabend um 18.30 Uhr im Kanzleramt über strittige Themen – ohne Ergebnis wurden die Verhandlungen am Montagnachmittag unterbrochen, am Dienstagmorgen ging es weiter, nun liegen die Ergebnisse vor. Dabei hatten sich SPD, Grüne und FDP zum Amtsantritt Ende 2021 noch geschworen: keine Nachtsitzungen. Nun zwingt sie der Zwist über Heizungen, Autobahnen und vermeintliche Vertrauensbrüche offensichtlich doch in die Schlaflosigkeit. Einen klaren Gedanken kann nach einem solchen Nacht-Marathon allerdings kaum jemand fassen, warnt Somnologe und Schlafmediziner Ingo Fietze von der Berliner Charité im Interview (das Interview wurde im Oktober 2021 geführt).

WirtschaftsWoche: Herr Fietze, Sie leiten das Schlaflabor an der Berliner Charité und helfen dort auch Führungskräften. Wer schläft eigentlich schlechter: Politiker oder Manager?
Ingo Fietze: Erstmal schlafen sehr viele Menschen schlecht, sei es, weil sie Schnarchen, dabei womöglich sogar Atemaussetzer haben, oder weil sie eben eine krankhafte Ein- und Durchschlafstörung haben. Als Schnarcher und Insomniker habe ich schon einige Manager behandelt, Politiker kommen eher selten.

Vielleicht lassen sich Politiker nicht behandeln, weil Schlafmangel für sie quasi zur Jobbeschreibung dazugehört. Nur vier Stunden Schlaf gelten oft als Zeichen der Leistungsfähigkeit?
Das ist natürlich großer Quatsch, denn niemand kommt für eine lange Zeit mit so wenig Schlaf aus. Jeder kann mal eine schlechte Nacht haben oder auch eine Woche zu wenig Schlaf bekommen, aber wer regelmäßig weniger als sechs Stunden schläft, der ist mental nicht so aktiv und fit. Deshalb denke und hoffe ich, dass Spitzenpolitiker und -managerinnen, wenn sie beispielsweise von A nach B gefahren werden, mal ein paar Minuten die Augen zu machen. Schon ein Power-Nap von wenigen Minuten kann für die nächsten drei bis vier Stunden wieder sehr wach machen. 

Prof. Dr. med. Ingo Fietze ist Somnologe, Leiter des Interdisziplinären Schlafmedizinischen Zentrums an der Berliner Charité und Vorstandsvorsitzender der Deutschen Stiftung Schlaf.  Quelle: imago images

Angela Merkel hat in ihrer Amtszeit doch immer wieder bewiesen: Wer schläft, verliert. 21 Stunden am Stück verhandelte sie beispielsweise Ende 2020 in Brüssel über verschärfte Klimaziele und den 750-Milliarden-Corona-Hilfsfonds. Während ihre Verhandlungspartner müde wurden, zog sie durch.
Keine Ahnung, wie Angela Merkel das durchhält, ob sie da zehn Tassen Kaffee in sich reinschüttet oder literweise Red Bull oder Cola trinkt. Aber sie ist eine gute Taktikerin und hat offensichtlich gelernt, mit den Müdigkeitstiefs besser umzugehen, während andere kaum noch die Augen offenhalten können.

Wann kommt denn so ein Tief normalerweise?
Bis zwei Uhr oder drei Uhr morgens kann man seine Leistungsfähigkeit einigermaßen abrufen und geistig annähernd konzentriert mitreden – aber nach drei Uhr ist Schicht im Schacht. Wer länger als die anderen durchhält, ist dann natürlich im Vorteil, sei es in Brüssel oder bei den anstehenden Koalitionsverhandlungen. Je später der Abend, desto größer sicher die Kompromissbereitschaft.

Kann man das denn eigentlich trainieren: Nicht müde zu werden – oder zumindest später als die meisten anderen Menschen?
Nein, man weder den Schlaf erzwingen, noch Wachheit provozieren. Einzig mit Adrenalin im Blut und starkem Willen kann man ein Schlafdefizit auch mal überlisten. Je öfter man dies macht, desto trainierter ist man darauf. Ein Training, dauerhaft mit möglichst wenig Schlaf auszukommen, gibt es nicht und ist auch nicht sinnvoll. Was man aber üben kann: Zuzulassen, dass einem die Augen zufallen, wenn man schläfrig wird, das sogenannte Power-Nap. Wer das kann, der hat schon viel gewonnen. Das kann man auch am Schreibtisch machen – auch, wenn es womöglich manchen zu peinlich ist.

Ein Einzelbüro wäre für diesen Tipp sicher empfehlenswert? 
Aber warum sollte einem so ein Power-Nap eigentlich peinlich sein? Wer mehr als 8 Stunden pro Tag leistungsfähig sein will, muss sich solche Pausen gönnen. Das ist auch viel effektiver, als ständig an der Kaffeemaschine zu stehen oder die Fenster aufzureißen, sobald eine Schläfrigkeitsphase kommt. Aber leider lernen wir schon in der Schule, dass man nicht einschlafen darf, später dann auf der Arbeit oder in einem wichtigen Meeting oder in einem Konzert. Es wäre viel wichtiger zu lernen, wie man richtig schläft, und wie wichtig ein guter Schlaf ist. In der Schule lernt man bereits was gute Ernährung und wie wichtig Sport ist. Deshalb würde ich mir auch ein Schulfach Schlafen wünschen.



Ob und wie viele Power-Naps die Kanzlerin macht, ist nicht bekannt – wohl aber ihre „Kameltechnik“, von der sie selbst schon berichtet hat: Sie könne quasi auf Vorrat schlafen, also am Wochenende Schlaf speichern wie ein Kamel das Wasser. Ist das eine gute Technik?
Ja und nein. Nach einer schwedischen Studie von vor drei Jahren, kann man Schlaf tatsächlich nachholen. Demnach ist das Ausschlafen am Wochenende für Herz und Kreislauf genau so gesund als wenn man jede Nacht acht Stunden schläft. Eine aktuelle Studie zeigte kürzlich aber auch, dass für die Kopfgesundheit, also das Demenz- und Alzheimerrisiko, der Wochenendschlaf nichts bringt. In diesem Zusammenhang kann man den versäumten Schlaf nicht nachholen.

Das ist aber eine schlechte Nachricht für all diejenigen, die tatsächlich wenig schlafen – sei es aus Stress oder wegen Insomnia.
Ja, das ist schon ein Drama: Einmal schlechter Schläfer, immer schlechter Schläfer. Wenn die Insomnie länger als vier Wochen dauert, ist es eine chronische Erkrankung. Und die geht meist nicht mehr weg.

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