Herr Werner, Sie ziehen sich regelmäßig für einige Tage ins Kloster zurück. Wie hat man sich den Ablauf so eines Klosteraufenthalts vorzustellen?
Relativ streng, es handelt sich um jesuitische Exerzitien für kleine Gruppen, ursprünglich eine Form der geistlichen Leistungseinübung, wie sie der Ordensgründer Ignatius von Loyola entwickelt hat. Dazu gehört elementar die Fähigkeit, dass man weglässt. „Wer sein Leben erhalten will, der wird's verlieren“, heißt es im Testament. Diese Dialektik wird in die Praxis des Gebets und der Meditation überführt.
Im Sinne des „weniger ist mehr“?
Nein. Das Ziel ist die Wiederentdeckung, die Freilegung des von Verformungen unterschiedlichster Art korrumpierten Lebens. Bei den Jesuiten heißt das „Unterscheidung der Geister“. Es geht um Klärung und Klarheit. Das hat nicht zuletzt eine tiefenpsychologische Dimension. Was in unserem Berufsalltag nicht zu Wort kommt, kehrt in der Stille als Frage wieder, die gelegentlich Erstaunen, ja Erschrecken auslösen kann: „Wer bin ich? Wie will ich leben?“
Zur Person
Jürgen Werner, Jahrgang 1956, berät Manager, lehrt Philosophie und Rhetorik an der Universität Witten/Herdecke und gibt von Zeit zu Zeit Exerzitien zu Themen wie der Erneuerung und Strategie von Unternehmen. Zuletzt ist sein Buch „Tagesrationen. Ein Alphabet des Lebens“ im Verlag tertium datur erschienen.
Und der Verzicht…
... soll helfen, sich diesen Fragen konzentriert zu stellen. Außer den Dingen des persönlichen Bedarfs hat man nichts dabei. Kein Handy, kein iPad, auch kein Buch. Eigentlich sollten auch Papier und Stift zu Hause bleiben. Aber daran halte ich mich nicht immer.
Was passiert dann?
Man schweigt. Und es gehen einem tausend Sachen durch den Kopf. Anfangs schreibe ich die Gedanken auf, dann bin ich sie los, habe sie notiert und muss mich nicht mehr mit ihnen beschäftigen. Das geht ein, zwei Tage so, und nach diesem Gedankensturm stellt sich in aller Regel eine tiefe Entspannung ein. Ich gehe dann früh ins Bett, schlafe tief und fest und wache morgens, auch in der Frühe, völlig ausgeruht auf.
Das klingt nicht gerade aufregend.
Das ist es auch nicht. Es kann sogar ziemlich langweilig sein. Außer vier, fünf kleinen Unterbrechungen am Tag geschieht ja nicht viel. Morgens hält der Exerzitienmeister die Messe, ohne Gesang und Predigt, allenfalls mit einem kleinen Impulsvortrag, etwa einem Kommentar zu einem biblischen Text, ansonsten herrscht Stille und man ist allein. Ich gehe meist spazieren.
Schweigen offenbart den gesprochenen Unsinn
Es wird nicht gefastet?
Nicht zwingend. Es gibt allerdings Exerzitien, bei denen man außer Wasser und vielleicht einem Apfel nichts zu sich nimmt, zur Entschlackung des Körpers. Daran gewöhnt man sich, spätestens nach zwei Tagen stellen sich auch die ersten klareren Gedanken ein, man ordnet die Dinge im Kopf, geht Phasen und Zäsuren seines Lebens durch, findet unentdeckte Zusammenhänge.
Haben Sie eine Erklärung dafür?
In der Regel tragen wir alle etwas mit uns herum, was uns latent beschäftigt, was in uns arbeitet. Aber bis wir da rankommen, kann es dauern, oft jahrelang. Schon weil unser Alltag dafür sorgt, dass das alles verschüttet bleibt. Unter Schweigebedingungen drängt es ins Bewusstsein.
Und nach den fünf Tagen…
… sprechen die Teilnehmer kurz miteinander. Aber eigentlich hat man gar keine Lust dazu. So wie man auch keine Lust hat zu telefonieren oder zu Hause zu erzählen, wie es war. Mich kostet es Überwindung, den Mund aufzumachen. Das ist nicht ungefährlich, denn man muss ja wieder in den normalen Alltagsrhythmus hineinkommen. Das dauert ein paar Tage. Das Sprechen erfordert zunächst eine fast körperliche Anstrengung.
Trotzdem stellen Sie sich immer wieder diesem Schweigeregime.
Ja, weil das Reden dadurch eine neue Gewichtung erfährt, weil man plötzlich erkennt, wie viel Unsinn gesprochen wird. Das allermeiste, was wir sagen, ist unwesentlich. Und diese Entwöhnung von den Worten, diese Neujustierung der eigenen Sprache hilft: schon weil man plötzlich sensibel wird für den Quatsch, der tagein, tagaus produziert wird.
Und das gilt auch für die digitale Kommunikation?
Natürlich. Wenn das Mobiltelefon erst einmal eine Woche ausgeschaltet war, benutzt man es danach eher widerwillig. Nicht zuletzt weil man merkt, wieviel Zeit man damit verschwendet und wie abhängig man mittlerweile davon ist. Wir kennen das doch alle: Plötzlich fällt das Netz aus oder wir haben das Smartphone zu Hause liegen gelassen. Dann erleben wir eine Art Phantomschmerz. Der „Prothesengott“ Mensch, so heißt es bei Sigmund Freud, ist seiner Gerätschaften beraubt und erfährt dies als Souveränitätsentzug, als Ich-Verlust. Das tut weh.
Neuerdings gibt der „Prothesengott“ seine Prothese freiwillig ab, zum Beispiel in Wellnesshotels mit handyfreien Zonen. Warum schaltet er nicht einfach sein Smartphone ab?
Weil er den Zwang lieber delegiert, anstatt sich selbst Gewalt anzutun. Bevor ich Masochist werde, lasse ich lieber andere zu Sadisten werden, zum Beispiel die Servicekräfte des Hotels.
Ein Fall für die Psychopathologie des digitalen Alltagslebens?
Der Gebrauch des Smartphones ist mittlerweile zu einem Automatismus geworden, zu einer Art Exerzitium der Abhängigkeit, weshalb wir uns „ohne“ plötzlich unvollständig fühlen. Dagegen arbeiten die Kloster-Exerzitien an: Sie zielen auf die Einübung in eine neue Form der Befreiung.
Um Kontrolle über die Technik zu gewinnen?
Die haben wir längst verloren. Das „Es“ der digitalen Technik hat sich, psychoanalytisch gesprochen, an die Stelle des „Ich“ gesetzt. Die Faszination des Digitalen beruht ja darauf, dass wir zum Medium der Technik werden können und dadurch ihre Vorteile genießen, anstatt umgekehrt die Technik zu unserem Medium zu machen. Das könnte man die vierte der großen Kränkungen der Menschheit nennen: die digitale Kränkung.
Was meinen Sie damit?
Wir sind dabei, unsere angestammte Herrscherrolle aufzugeben zugunsten artifizieller Intelligenz, die unser Leben mehr und mehr in Regie nimmt und von der ein sanfter Zwang ausgeht. Das erleben wir täglich, allein schon in der gefühlten Nötigung zu reagieren, wenn das Smartphone brummt. Und das Fatale dabei ist, dass wir dies halb freiwillig tun. Dass wir den Moment, von dem an diese Freiwilligkeit in eine Sucht übergeht, nicht mehr mitbekommen. Dass wir eigens solche heilsamen Unterbrechungen wie Exerzitien brauchen, um wieder zu verstehen, wie viel wir versäumen, wenn wir meinen, nichts versäumen zu dürfen.