Selbstständigkeit Im Alleingang durch die Krise

Derzeit gibt es wenige freie Stellen – aber viele Möglichkeiten zur Selbstständigkeit. Ob Sie als Einzelkämpfer Chancen haben und wie Sie die Krise nutzen können.

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Kai Müller, Blogger, Jörg Stroisch, Journalist, Uwe Volkmer, Coach Quelle: Dominik Pietsch für WirtschaftsWoche

Nach 25 Jahren machte Renate Pessel Schluss. Fast ein halbes Leben hatte sie als Angestellte gearbeitet, hatte ein eigenes Büro, bezog regelmäßiges Gehalt und genoss bezahlten Urlaub. Dann fasste sie sich ein Herz: Sie setzte sich an ihren PC und schrieb ihre Kündigung. Ihr gut dotierter Job im Controlling bei der Softwareschmiede Adobe: Geschichte. Die Zukunft: wechselnde Kollegen und Kunden, schwankende Honorare und unregelmäßige Arbeitszeiten.

Seit Beginn des vergangenen Jahres arbeitet die 50-Jährige als freiberufliche Interimsmanagerin. Diese Führungskräfte sind so etwas wie die Feuerwehr für Firmen, die dringend, aber nur übergangsweise Verstärkung im Management brauchen. Experten wie Pessel bekommen dafür nach Branchenangaben 750 bis 1500 Euro Honorar am Tag.

„Wenn ich Freunden oder Verwandten erzähle, dass ich jetzt selbstständig bin, ist das für manche erst einmal ein Schock“, sagt Pessel. Kein Wunder: Neun von zehn Deutschen halten die Selbstständigkeit für riskant, ergab eine Studie von TNS Emnid aus 2008. Viele fürchten die finanzielle Ungewissheit und die soziale Isolation. Pessel bereut die Entscheidung allerdings nicht – sie hat momentan alle Hände voll zu tun.

Viele Firmen reagieren derzeit mit neuen, befristeten Projekten auf die Wirtschaftskrise. Dafür wollen sie jedoch niemanden fest einstellen, sondern suchen freiberufliche Manager. So wie Renate Pessel. Ihrem ersten Kunden half sie etwa dabei, die Übernahme durch ein US-amerikanisches Unternehmen vorzubereiten; aktuell unterstützt sie einen internationalen Softwarekonzern dabei, die Gehaltsabrechnungen Tausender Mitarbeiter zu bündeln. Ein typisches Krisenprojekt mit typischem Krisenziel: Kosten senken.

KfW erwartet neuen Gründerboom

Überall wird gespart, gekündigt und geschasst. Und während die Stellen knapp werden, spülen die Universitäten und Fachhochschulen Absolventen auf den Arbeitsmarkt. Nicht nur Manager wie Renate Pessel denken deshalb aktuell darüber nach, es als Einzelkämpfer zu versuchen. Anwälte und Architekten, Designer, Journalisten und Personaler – viele stehen vor der Wahl: Arbeitslosengeld oder Gründungszuschuss? Aufgeben oder Loslegen? Kein Plan oder Businessplan?

Nicht wenigen erscheint die Selbstständigkeit als die bessere Lösung. Zwar sind die Unternehmensgründungen seit Jahren rückläufig und auf dem niedrigsten Stand seit 2001, so der Gründungsmonitor der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). Doch die Zahl dürfte in den nächsten Monaten deutlich ansteigen. Davon sind auch die Experten der KfW überzeugt. 

Die Generation Krisengründer ist eine bunte Truppe aus allen Teilen der Gesellschaft, wie der Besuch bei den Deutschen Gründer- und Unternehmertagen in Berlin vergangene Woche zeigte.

Es ist zehn Uhr morgens an einem kalten Märztag. Vor dem Eingang zur Messe hat sich längst eine Schlange gebildet. Die Besucher zieht es in die Seminare mit Gründerberatern und zu den Podiumsdiskussionen mit erfahrenen Unternehmern. „Freier Beruf oder Gewerbe – entscheiden, anmelden, starten“ heißt ein Workshop, der aus allen Nähten platzt. Ein junger Mann mit Baseballkappe steht dort neben einer älteren Dame mit geblümtem Halstuch und Teebeutel-großen Ohrringen; in den Stuhlreihen sitzen Nadelstreifen neben Tätowierungen, Hosenanzug neben Kapuzenpulli. Einer will sich als IT-Sicherheitsberater selbstständig machen, eine andere als Grafikerin. Anwälte treffen auf Imbissbetreiber. Und alle treibt die Hoffnung.

Nicht alle sind erfolgreich

Für manchen ist die Gründung aus der eigenen Not heraus nur eine Zwischenlösung. Andere scheitern auf halber Strecke. „Längst nicht alle sind erfolgreich“, sagt der renommierte Gründerprofessor Heinz Klandt von der European Business School (EBS) in Oestrich-Winkel. Für die meisten aber käme der allgemeine Notstand genau richtig, es gebe für Unternehmer keine bessere Zeit als eine Phase des Umbruchs, sagt Klandt: „Krisenzeiten bieten Chancen, die es sonst nicht gibt.“

Dickschiffe wie General Motors geraten im hohen Wellengang der Krise in Seenot – die Selbstständigen auf ihren kleinen, aber beweglichen Ein-Mann-Rettungsbooten trotzen dem Sturm. Und manche profitieren sogar von der rauen See. Zu ihnen gehören freiberufliche Schuldnerberater und Gerichtsvollzieher, Insolvenzverwalter, Versteigerer und Arbeitsrechtler.

Martin Massow, Autor des „Freiberufler-Atlas“, bescheinigt jedoch auch anderen Gruppen gute Chancen – etwa Coaches und Therapeuten, handwerklichen und technischen Serviceleuten sowie Programmierern und Online-Entwicklern.

Diese können in ihren Garagen und Heimbüros zu geringen Fixkosten Geräte und Software ausbaldowern, die dann die Abläufe in Unternehmen effizienter machen; Juristen wiederum, die Personal abbauen oder Kosten senken können, stehen bei den Konzernen hoch im Kurs. Und Personal- und Karriereberater sind gefragt, weil sich viele Menschen plötzlich neu orientieren müssen. Sogar Selbstständige wie die Hamburger Yogalehrerin Martina Mittag haben trotz der um sich greifenden Krisenlähmung auf einmal ungeahnte Bewegungsfreiheit.

Furchtlos durch die Krise

Die Deutschen haben zwar Angst vor dem Risiko. Dennoch liebäugeln inzwischen mehr und mehr mit der Idee, ihr eigener Chef zu werden. Auch das zeigt die TNS-Emnid-Umfrage aus dem Jahr 2008: Trotz vieler Vorbehalte ist gleichzeitig für acht von zehn Bundesbürgern die Selbstständigkeit attraktiv. Daran schätzen sie vor allem die Möglichkeit, eigene Ideen umzusetzen, selbstbestimmt und von zu Hause aus zu arbeiten.

Zumal das Risiko der Selbstständigkeit in einer Wirtschaftskrise sogar relativ eher sinkt: Manche sicher geglaubte Anstellung ist es de facto nicht. Und verliert ein Angestellter seinen Arbeitsplatz, „kostet das ihn von heute auf morgen seine komplette wirtschaftliche Existenz“, sagt Freiberufler-Experte Massow. „Verliert ein Selbstständiger dagegen einen von zehn Kunden, mag das seinen Umsatz schmerzhaft treffen, aber existenziell zumeist nicht vernichten.“

Und wer als Einzelkämpfer die Rezession übersteht, kann sich Hoffnungen machen, nie wieder das starre Korsett der Fest‧anstellung anlegen zu müssen. „Wenn die Unternehmen im nächsten Aufschwung wieder Leute brauchen“, ist der Münchner Gründerberater Andreas Lutz überzeugt, „werden sie mehr Aufträge an Selbstständige und Freie geben, bevor sie wieder Mitarbeiter einstellen.“

Selbstständige bleiben in der Krise optimistisch

Entsprechend optimistisch sind viele Einzelkämpfer derzeit. Zum Beispiel Frank Radynski, einer der Redner auf den Deutschen Gründer- und Unternehmertagen. Er hat mit 47 seinen Job als Manager gekündigt, um „U-exist“ aufzubauen, ein „Institut für Unternehmensentwicklung“. Auf dem Podium in Berlin spricht er zunächst über Marketing, Vertrieb und Businesspläne. Am Schluss jedoch stellt ihm einer der Anwesenden die entscheidende Frage: Wie wirkt sich die Krise aktuell aus? „Manche Selbstständige, die ich kenne, sind ausgebucht bis 2010“, antwortet Radynski gelassen. „Die meisten sehen die Lage ziemlich entspannt.“ Die Zuhörer nicken und sind beruhigt.

Radynskis Einschätzung klingt vielleicht kühn und typisch für einen Gründerberater. Sie wird jedoch auch durch eine Umfrage des Internet-Portals gruendungszuschuss.de in Kooperation mit den Forschern Jörn Block, Gino Lombardo und Georg Jürgens von der TU München gestützt, die der WirtschaftsWoche exklusiv vorliegt. Danach sind die Selbstständigen deutlich hoffnungsvoller als die meisten Szenarien, die die Politiker und Ökonomen derzeit Tag für Tag beschwören: Nur knapp jeder fünfte Selbstständige schätzt die Geschäftslage in seiner Branche aktuell als „schlecht“ ein – jeder Dritte hält sie hingegen für „gut“ oder „sehr gut“. Sieben von zehn Befragten erwarten gar, dass sie sich in den nächsten zwölf Monaten verbessert.

Noch zuversichtlicher sind die persönlichen Erwartungen der Selbstständigen für ihr eigenes Unternehmen: Knapp neun von zehn glauben, dass sich ihre eigene Geschäftslage in den nächsten zwölf Monaten nicht verschlechtern wird. Mindestens.

„Overoptimism“ heißt dieses Selbstständigen-Phänomen im Fachjargon. Man könnte es aber auch Selbstbewusstsein nennen. Denn genau das brauchen Unternehmer – ganz unabhängig von ihrer Geschäftsidee oder der Branche, in der sie schaffen –, um erfolgreich zu sein.

Zu diesem Resümee kommt auch EBS-Gründerprofessor Klandt. Schon vor Jahren hat der Wissenschaftler einen psychologischen Test entwickelt, um herauszufinden, was erfolgreiche Gründer auszeichnet. Rund 24.000 Teilnehmer haben sich seitdem durch die rund 80 Fragen im Internet geklickt.

Eindeutiges Ergebnis: Besonders erfolgreich sind diejenigen, die auch in schwierigen Zeiten ihren eigenen Fähigkeiten vertrauen, anstatt den Kopf in den Sand zu stecken; diejenigen, die ihre Pläne selbst verwirklichen, statt dies anderen zu überlassen oder abzuwarten.

Angst vor der Absatzschwäche

Wer gründen will, sollte diese Eigenschaften mitbringen oder trainieren – sonst schrumpfen die Erfolgsaussichten schnell.

Allerdings profitieren viele Gründer gerade in der Anfangsphase ebenso stark von ihrer jeweiligen Branchenerfahrung. Wer den Markt aus jahrelanger Beobachtung als Angestellter kennt, weiß nicht nur, wer die wichtigsten Konkurrenten und wie hoch deren Preise sind, sondern kann seine Kontakte auch gezielt nutzen, um erste Kunden zu gewinnen.

Schließlich bieten die meisten Selbstständigen Dienstleistungen an, deren Wert die Kunden vorher nicht sofort erkennen können. Eine Stunde Beratung bei zwei verschiedenen Anwälten mag in etwa gleich teuer sein – aber sie ist sicher nicht immer gleich gut. Ökonomen nennen diese Dienstleistungen deswegen „Erfahrungsgüter“: Erst nach dem Kauf weiß man, ob der Preis angemessen war.

Empfehlungen sind bei diesen Unternehmen deshalb besonders wichtig. Entsprechend verkaufsfördernd wirkt es, diese gezielt einzuholen und Referenzkunden auf der eigenen Homepage zu präsentieren oder sich nach Mentoren umzusehen, die dabei helfen können, solche Kontakte herzustellen.

Kundenbindung- und findung ist das A und O

Von seinem Netzwerk profitieren konnte auch Uwe Volkmer. Nach seinem Psychologie-Studium arbeitete er sechs Jahre lang in der Personalentwicklung eines Versicherungskonzerns und wechselte dann zu einer Personal- und Managementberatung. 1991 machte er sich schließlich als Coach selbstständig.

„Anfangs hatte ich keine Probleme, an Aufträge und neue Kunden zu kommen“, sagt Volkmer nicht ohne Stolz. Geholfen habe ihm zum einen, dass er noch als freier Mitarbeiter für die Beratung tätig war. Zum anderen, dass ihm seine früheren Kunden treu blieben.

Der bisherige Arbeitgeber, Ex-Kollegen, langjährige Kunden – solche Kontakte sollte man spätestens mit dem Unternehmensstart aktivieren. Davon ist auch der Münchner Gründerexperte Andreas Lutz überzeugt: „Wer in der Startphase rasch Abnehmer findet“, sagt Lutz, „bleibt mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als ein Jahr selbstständig.“

Wer die neuen Auftraggeber jedoch nicht gleich mit der Abfindung erbt, muss sie finden. Genau das erscheint vielen Selbstständigen in der Krise jedoch als doppelt schwer. Schließlich ist längst nicht jeder ein Verkäufertyp, kann potenzielle Abnehmer aufspüren, Interessenten umgarnen und Kunden an sich binden.

Genau das aber müssen Selbstständige können – ganz egal, wie gut und neu ihre Geschäftsidee ist. Immerhin: Einiges davon lässt sich lernen. Zum Beispiel von Experten wie Gerd Hauer vom Business Institut International in Berlin.

Übung macht den Meister

Üben, Üben, Üben – diese Wörter peitscht Hauer von der Bühne, als er auf den Berliner Gründertagen sein „Verkaufstraining“ abhält. „Hängen Sie sich ein großes Stoppschild an die Bürotür und schreiben Sie eine einzige Zahl drauf: 35“, ruft er in die Menge und macht eine dramaturgische Pause, bevor er die Erklärung liefert: „Wenn Sie nicht jeden Tag 35 Prozent ihrer Zeit darauf verwenden, Kunden zu suchen, dann zurück an den Schreibtisch!“

Akquise ist vielen unangenehm – aber es geht nicht ohne. Dazu gehört, sich erstmal Gedanken um seine Zielgruppe zu machen: Viele Selbstständige verschenken wertvolle Zeit, weil sie für Auftraggeber arbeiten, die gar nicht zu ihnen passen. Und wer einmal herausgefunden hat, an wen sich Produkt oder Dienstleistung richten, der sollte sich auch nicht unter Wert verkaufen: „Wenn Sie am Anfang viel zu günstig anbieten, nur damit Sie an erste Kunden kommen“, beschwört Hauer seine Zuhörer, „dann versauen Sie sich Ihre Preise.“

Die Erfahrung machte auch der Kölner Kai Müller. Der 31-Jährige hat sich bereits 2001 zum ersten Mal selbstständig gemacht, damals als Web-Designer. Nach ein paar Wochen kamen die ersten großen Aufträge, die Arbeit wuchs – aber das große Geld blieb aus. Er hatte zu wenig verlangt und musste viel zu viel dafür tun: „Ein Anfängerfehler“, sagt Müller heute. Zwischendurch wechselte er deshalb wieder zurück ins Angestelltenverhältnis, bevor er Ende vergangenen Jahres erneut als Unternehmer startete. Seitdem überlegt er sich genauer, welche Kunden er annimmt und welche nicht..

Wie schwer Verkaufen ist, hat auch Robert Buschmann zu spüren bekommen. Er machte sich schon 1995 unmittelbar nach seinem Studium selbstständig und eröffnete damals ein Ingenieurbüro im Odenwald. Sein Spezialgebiet: der Automotive-Sektor. In seinem Labor in Ober-Ramstadt programmierte er Software für Mikro-Controller, die Roboter an Fertigungsstraßen dazu bringen, Autos zusammenzubauen. Zunächst mit großem Erfolg: Auftragsengpässe kannte Buschmann nicht, Jobangebote schlug er reihenweise aus, weil er lieber selbstständig bleiben wollte. 13 Jahre lang ging das gut.

Dann kam die Krise. Projekte wurden auf einmal nicht verlängert, Aufträge auf Eis gelegt. Und zum ersten Mal musste Buschmann etwas tun, worin er keine Übung hatte: potenzielle Kunden anrufen, umwerben, überzeugen. „Kalt-Akquise“, sagt er, „ist nicht mein Ding.“

Im Internet entdeckte er schließlich alternative Vertriebswege: Portale wie Etengo, Gulp, Freelancermap oder Quotatis bringen Freiberufler und Auftraggeber zusammen, ohne dass die Klinken putzen müssen. Wie moderne Tagelöhner können Gründer hier morgens nach Aufträgen suchen und im Idealfall mittags mit der Arbeit beginnen. Business-Netzwerke wie Xing oder LinkedIn wiederum bieten Selbstständigen die Chance, ihr Leistungsprofil so zu präsentieren, dass es auch von Internet-Suchmaschinen gefunden wird. Und Freiberufler wie Rechtsanwälte oder Steuerberater, die keine Werbung machen dürfen, können in Blogs oder auf ihren Homepages informieren, Fragen beantworten und so neue Mandanten finden.

Für Robert Buschmann ist das Internet wie für viele andere Einzelunternehmer inzwischen das perfekte Marketing-Medium: Es kostet wenig und hilft, gezielt Kunden und Auftraggeber anzusprechen. Nur zwei Wochen nachdem Robert Buschmann sein Profil bei Etengo angelegt hatte, bekam er schon den Zuschlag eines Auftraggebers aus dem Medizin-Bereich: Seitdem programmiert er Web-Applikationen für das Aufgaben- und Qualitätsmanagement des Unternehmens. Ein lukratives Projekt – mitten in der Krise.

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