Soziologe über Digitalisierung „Deutschland steht sich selbst im Weg“

Digitalisierung: Warum sie uns oft überfordert Quelle: imago images

Sie krempelt die Arbeitswelt und unsere gesamte Kommunikation um – und ist uns doch vor allem ein großes Rätsel: die Digitalisierung. Der Soziologe Dirk Baecker erklärt, was das große Unbehagen auslöst.

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Bestimmendes Thema bei der Digitalisierung in Unternehmen scheint Arbeitsorganisation zu sein. Dabei soll ja eigentlich so vieles einfacher werden – gerade durch Digitalisierung. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Es sind weitreichende Änderungen, die hier vorgenommen werden: Es ist letztlich die Umstellung von schriftlich kommunizierten auf digital kommunizierte Abläufe. Dabei stellt man fest, dass die eigenen Kenntnisse, wie eine Organisation tickt, wie ihr hierarchischer Aufbau und ihre Arbeitsteilung funktionieren, unzureichend sind. Man weiß zwar viel über Changemanagement und Betriebswirtschaftslehre, aber wenig darüber, wie ein grundsätzlicher kultureller Wandel einer Organisation abläuft. Man merkt dabei, dass es eine ganze Reihe von sozialen Dynamiken gibt, die man nicht durchschaut hat. Deswegen diskutieren so viele Unternehmen ihre eigene Organisation stärker als die Digitalisierung selbst.

Die Digitalisierung stößt also die Beteiligten nur auf ohnehin vorhandene Unzulänglichkeiten?
Genau, sie ist eigentlich nur ein zufälliger Auslöser. Auch bei einer ganz anderen Entwicklung wären Organisationprobleme zutage getreten, man wäre genauso überrascht gewesen und hätte sich ein Bild machen müssen von den Einrichtungen, in denen man arbeitet.

Sie bezeichneten gerade Digitalisierung als die grundlegende Umstellung von schriftlicher auf digitale Kommunikation. Wie gut gelingt es dem Menschen, sich umzustellen?
Wir sind gegenwärtig überfordert von den Möglichkeiten der Kommunikation in den elektronischen und digitalen Medien. Ich nenne dies Kontrollüberschuss. Das heißt, die Maschinen scheinen mehr von unserem Verhalten kontrollieren zu können als wir wollen. Umgekehrt bemühen wir uns, auf allen möglichen Ebenen unsererseits wieder die Kontrolle zu erreichen. Das ist auch das Thema bei Unternehmen.

Dirk Baecker ist Soziologieprofessor der Uni Witten/Herdecke. Quelle: Presse

Ist es überhaupt möglich, die Kontrolle zurückzuerlangen?
Ich bin sehr optimistisch. Und zwar deswegen, weil sich unsere Verhaltensweisen auf einer praktischen, einer bewussten und einer emotionalen Ebene abspielen. Auf der praktischen Ebene sind wir schon angepasst: Wir gehen bereits sehr professionell mit computergesteuerten Abläufen um – siehe Börsenmakler, Kraftwerkanlagenüberwachung, elektronische Kriegsführung oder physikalische Forschung. Wir haben eher emotionale Schwierigkeiten, weil wir uns in diesen Möglichkeiten nicht zu Hause fühlen. Wir fühlen uns zu Hause mit unseren Kollegen, mit der Faszination, dem Spaß, der Konkurrenz bei der Arbeit.

Wann kommt es zur Überforderung?
Man braucht die Anforderungen nur ein wenig zu steigern, dann merken wir, dass unser Gemüt nicht mitzieht. Unsere Empfänglichkeit und Empfindlichkeit ist nicht auf der Höhe unserer Praxis, könnte man auch sagen. Deshalb stehen wir wie der Ochs vorm Berg und sagen: ‚Verstehen tun wir das eigentlich nicht, was uns da widerfährt.‘ Wir verstehen zwar unsere Arbeit. Nur, wie die Maschinen in unsere Kommunikation mit anderen intervenieren, das verstehen wir, wenn wir nach Begriffen suchen, nicht. Vielleicht ist es diese Ungleichzeitigkeit zwischen praktischer Anpassung, emotionaler Unruhe und Überforderung, die am meisten Stress auslöst.

von Thomas Schmelzer, Bert Losse

Was bedeutet das für Unternehmen, in denen der Wandel in vollem Gange ist? Das müsste sich ja direkt in Krankenständen niederschlagen.
Zunächst: Wir haben diese Situation seit 40 Jahren. Es gibt eine extrem widerständige Geschichte in Unternehmen – auch Krankenhäusern, Behörden, Universitäten, Kirchen – bei der Einführung von Rechnern. Ich glaube, darauf muss man hinweisen um zu sagen: Es reicht nicht, begeistert zu sein von neuen Möglichkeiten, es reicht nicht, ein neues Bewusstsein dafür zu schaffen. Sondern man muss sich sehr genau überlegen, an welchen Stellen welche Art von Software oder Algorithmen und digitalen Apparaten sinnvoll ist und wo nicht. Man muss dem Widerstand seinen Raum lassen und man muss den Lerneffekten ihren Raum lassen. Man muss möglichst viel darüber reden, wo man was aus welchen Gründen macht. Da ist jede Skepsis und jede Verweigerung – sei es von jüngeren oder von älteren Mitarbeitern – zu respektieren. Dann kann man auch Krankheitsstände reduzieren.

Also ist das, was Kritiker als Grund für Deutschlands Hinterherhinken bei der Digitalisierung monieren, eigentlich eine gesunde Abwehrreaktion?
Grundsätzlich ja. Allerdings gibt es Bereiche wie Daten- und Privatsphärenschutz, wo man sagen muss: Da steht sich Deutschland selbst im Weg und vergibt einige Chance der Big-Data-Forschung.

Typische Resignation: ‚Dann ziehen wir eben den Stecker‘

Sie beschreiben in Ihren Vorträgen und auch in Ihrem aktuellen Buch die Digitalisierung als Revolution vom Kaliber des Buchdrucks vor rund 570 Jahren. Mit welcher Veränderung haben die Menschen größere Probleme?
Die bisherigen drei Medienrevolutionen hatten mit der jetzigen vierten eines gemeinsam: Sie gingen mit einem Überfluss an Kommunikation einher. Das gilt für die Sprache, das gilt für die Schrift und vor allem für den Buchdruck. Der wichtigste Unterschied zwischen Digitalisierung und Buchdruck ist, dass der Buchdruck die moderne Gesellschaft erst erzeugt hat. Die allmählich alphabetisierte Bevölkerung konnte in einen kritischen Geisteszustand versetzt werden – daraus entstanden Aufklärung und Humanismus. Die Grundregel dieser modernen Gesellschaft ist: Wer aktiv kritisiert, muss sich auch selbst der Kritik aussetzen. Der springende Punkt ist, dass Sie einen Computer nicht kritisieren, einem Algorithmus nicht mit Vernunft kommen können.

Und damit haben wir ein Problem?
Sie haben es da mit Daten zu tun, die so sind, wie sie sind. Die große und neue Entdeckung ist, dass wir in unserer menschlichen Kommunikation mit neuen Partnern konfrontiert sind. Wir schätzen Individuen, die ihre eigenen Absichten, ihre eigene Geschichte und Biografie, ihr eigenes Gedächtnis haben. Dieselben drei Bedingungen gelten mittlerweile auch für die Maschinen der digitalen Medien: Sie sind undurchschaubar, sie haben ein wesentlich stärkeres und verlässlicheres Gedächtnis als Menschen – und ihr Handeln ist unvorhersehbar, weil wir ihre Algorithmen nicht berechnen können. Maschinen haben in ihrer Beteiligung an Kommunikation denselben Status wie Menschen. Das sind wir noch nicht gewohnt.

Was bedeutet das für zwischenmenschliche Verhältnisse, wenn nicht mehr die relativen Wahrheiten des Einzelnen zählen, sondern die gesammelten Fakten der Maschinen?
Community ist einer der ganz großen Begriffe der letzten 15 bis 20 Jahre. Da wird das „typisch menschliche“ gepflegt. Überall geht es um Menschen, die etwas miteinander zu tun haben, weil man glaubt, etwas miteinander zu tun zu haben – eine blanke Tautologie! Das ist die Stärkung der menschlichen Seite gegenüber der Maschine. Wir haben eine große Wellnessmode, wo der Mensch sich auf seine Körperlichkeit zurückzieht, unter Umständen sogar in Wellnesshotels geht, wo der Strom abgeschaltet werden kann. Wir erleben eine neue Kunstgattung, die Performancekunst, wo nichts anderes mehr vorgeführt wird als der zerbrechliche menschliche Körper. Da stehen nicht mehr die sprechenden, deklamierenden Schauspieler auf der Bühne, die ihr Schicksal in die Hand nehmen, sondern da stehen Performer, die winseln und schreien und mit Effekten des Raums spielen. Sie sind reine körperliche Existenzen – da kommen die Maschinen nicht mit. Da schauen wir auf uns selbst und genießen es, dass wir etwas sind, das die Maschinen noch nicht sind.

Was macht es mit Menschen, wenn sie von allwissenden Maschinen umgeben sind – hemmt oder beflügelt das Kreativität und Erfindungsreichtum?
Es gibt scharenweise Menschen, die sich faszinieren lassen. Denken Sie an die Start-up-Szene und Ideen wie agiles Management. Es gibt eine enorme Faszination dafür, Dinge wie Aktenführung hinter sich lassen zu können. Es gibt aber auch maschinenstürmerische Tendenzen. Je bedrohlicher das Szenario wird, dass Arbeitsplätze verloren gehen, desto mehr müssen wir auch mit Maschinenstürmen rechnen – sowohl auf der kollektiven wie auch auf der individuellen Ebene, wo es möglicherweise zu neuen Aussteigertendenzen kommt. In Firmen hört man das manchmal in Form des resignierten Satzes: ‚Dann ziehen wir eben den Stecker.‘ Das ist zwar sanfte Gewalt, aber Ausdruck der Idee, die Geräte einfach abzuschalten.

Löst Digitalisierung Aufruhr und Konflikte aus?
Ja, weil sie nicht allein auftritt, sondern im Rahmen der Globalisierung und zeitgleich mit dem Klimawandel. Der ist schon seit ein paar Jahrzehnten im Gange, hat aber bislang noch nicht die ganz große greifbare Dimension erreicht. Jetzt erfahren wir, auch dank digitaler Medien, dass es wohl doch schlimmer ist, als je gedacht. Das löst eine enorme Unruhe aus, die dramatische politische Effekte hat. In Unternehmen bedeutet das, dass man noch schneller getaktet denken und planen muss, die langfristigen Strategien von einst sind verloren. Klimawandel, Globalisierung und Digitalisierung sind drei politisch nicht mehr zu bewältigende große Herausforderungen der menschlichen Gesellschaft. Man versucht händeringend damit umzugehen – doch die Lösung gibt es noch nicht.

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