Ständige Erreichbarkeit "Solchen Dauerstrom hält absehbar keiner aus"

Der Soziologe Hartmut Rosa über unseren inneren Zwang zu dauerhafter Kommunikation und die Folgen für Unternehmen.

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Hartmut Rosa Quelle: Pressefoto

WirtschaftsWoche: Professor Rosa, wie oft kontrollieren Sie Ihre E-Mails?

Rosa: Manchmal mehrere Tage nicht. Selbst mein Mobiltelefon habe ich vor ein paar Tagen zu Hause liegen gelassen. Das war wie abschalten – und die Welt ist davon auch nicht untergegangen.

Warum fällt es dann vielen Menschen schwer, sich bewusst auszuklinken?

Weil wir, um es mit Goethes Zauberlehrling zu sagen, die Geister nicht mehr los werden, die wir riefen. Durch das Ausklinken gewinne ich nichts, weil sich in der Zwischenzeit mein E-Mail-Berg weiter erhöht. Schaut man wieder rein, fühlt man sich sofort wieder heiß geschaltet, wird in kürzester Zeit durch verschiedenste Informationsebenen und emotionale Welten geschleust – vom Jobangebot in Singapur über das Verschieben einer Verabredung im Café um die Ecke bis zum Todesfall im Freundeskreis. Jede Nachricht setzt uns auf ihre eigene Weise unter Stress, weil sie Entscheidungen verlangt. Und während wir eine Nachricht verarbeiten, sind schon wieder drei neue eingetrudelt. Eine Sisyphusarbeit auf extrem rutschigen Abhängen.

Wenn es so stressig ist, warum sind wir dennoch ständig auf Empfang?

Wir sind offenbar seit Jahrhunderten kulturell, soziologisch, vielleicht sogar biologisch darauf programmiert, unsere kommunikative Erreichbarkeit zu steigern. Wenn der Mensch Informationen leichter austauschen kann, dann tut er es. Hinzu kommt die Angst, nach dem Abschalten von allen Entscheidungsprozessen abgeschnitten zu sein. Obendrein haben wir unsere Sozialstrukturen so dynamisiert, dass sich Menschen ihrer Position nicht mehr gewiss sind. Wir kämpfen permanent um Anerkennung. Es reicht nicht mehr, irgendwelche Spuren in der Welt zu hinterlassen. Wir wollen diese Spuren auch permanent beobachten, um festzustellen: Bin ich noch gefragt?

Wie wirkt sich das auf unsere Psyche aus?

Unter einem solchen Dauerstrom zu stehen hält absehbar keiner aus. Wer das Gefühl hat, Druck als Selbstzweck ausgesetzt zu sein, gerät in einen Zustand dauerhafter Erschöpfung. Die Konzentrationsfähigkeit nimmt ab, die Aufmerksamkeitsspannen werden kürzer. Wir hoppen von einem Ereignis zum nächsten. Das schränkt unsere Leistung stark ein. Und damit sinkt die Fähigkeit, ein längeres Projekt konzentriert durchzuziehen, ebenso wie es unsere Kreativität behindert – zum Schaden der Unternehmen.

Können die es sich überhaupt leisten, einen Gang zurückzuschalten?

Sie müssen sogar, wenn sie an diesem organisatorischen Kammerflimmern nicht zugrunde gehen wollen. Wir müssen akzeptieren, dass wirklicher Tiefgang und Innovation nicht durch flexibles, immer schnelleres Reagieren kommt, sondern durch eine gewisse Unempfindlichkeit gegenüber den kommunikativen Reizen unserer Umwelt. Viele überschätzen ihre Bedeutung fürs Unternehmen. Ebenso wie die Unerlässlichkeit, in einer Art vorauseilendem Gehorsam dauernd im On-Modus zu sein.

Wie können Unternehmen gegensteuern?

Indem sie individuelle und kollektive Rückzugsorte schaffen. Situationen, die komplett entlastet sind von Arbeit – mal einen E-Mail-freien Tag einführen. Oder wandern gehen. Schon aus Eigennutz.

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