Start-ups überwachen Supermärkte Wenn der Algorithmus den Dieb stellt

Überwachungs-KI im Supermarkt? Neue Start-ups erkennen verdächtige Bewegungen zwischen den Regalen. Quelle: Getty Images

In vielen Läden fehlt es an Personal. Zugleich gibt es Sorgen, dass steigende Preise auch zu steigenden Diebstählen führen könnten. Smarte Überwachungssysteme sollen helfen. Doch die unangenehmen Aufgaben müssen weiterhin die Menschen erledigen.

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Unauffällig verschwindet das Parfüm im weiten Wintermantel, Spirituosen werden im Einkaufskorb unter ein paar Tüchern versteckt, teure Kosmetika tauchen in Handtaschen mit doppeltem Boden ab. Nur drei von vielen populären Methoden, mit denen Diebe im Handel unterwegs sind. Dabei siegt auch beim Klauen die Kreativität: Wer neue Methoden findet, kann Personal oder Ladendetektive leichter täuschen.

Doch die Techbranche bleibt dran. Und testet neue Technologien, um die sogenannten „Inventurdifferenzen“ zu verringern und einem teuren Problem vorzubeugen: Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland Waren im Wert von etwa 3,2 Milliarden Euro entwendet, schätzt das Kölner Handelsforschungsinstituts EHI. Neben Detektiven, Kameras und Warensicherungssystemen kommt in einigen Filialen nun auch Software zum Einsatz. 

Künstliche Intelligenz (KI) soll so gegen Klauen helfen. Dabei docken die Programme in aller Regel an die bestehenden Videoüberwachungssysteme der einzelnen Läden an. Die Bilddaten werden von  der Software dann auf verdächtige Bewegungen analysiert. „Teilweise gibt es Systeme, die bereits anhand eines Verhaltensmusters erkennen, ob sich jemand ungewöhnlich verhält“, sagt Frank Horst, der den Fachbereich Inventurdifferenzen beim EHI leitet. Start-ups wie Signatrix aus Berlin oder Veesion aus Paris werben damit, die Bilder der Überwachungsanlagen so genau auszuwerten, dass sich Diebstahlsversuche erkennen lassen.

Blick auf verdächtige Bewegungen

In der Praxis heißt das: Wenn Ware in Kleidungsstücken versteckt, blitzschnell aus dem Regal genommen, ohne Blick auf das Preisschild eingepackt wird oder gleich haufenweise Produkte gegriffen werden, schlägt die Software Alarm. „Unser System ist auf Dutzende verschiedene Gesten trainiert“, sagt Thibault David, Co-Gründer von Veesion. Dabei nutzen die Programme die komplexe KI für vergleichsweise simple Aufgaben.

Es geht nicht zwingend um ausgefeilte Analysen, sondern in vielen Fällen um Routineaufgaben. Die Programme werten automatisch alle Kameras gleichzeitig aus. „Menschen können das allermeiste auch erkennen, aber dabei wird ihnen tierisch langweilig“, sagt Philipp Müller, Co-Gründer von Signatrix. Die Software soll so zum einen dabei helfen, bislang unentdeckte Diebstahlsversuche aufzudecken. Jedes Jahr gelingt es etwa 20 Millionen Mal, unterschlagene Ware an der Kasse vorbeizuschmuggeln, schätzt das EHI.

Zum anderen übernehmen die Analyseprogramme die Aufgabe von Personal, das ohnehin überlastet oder gar nicht erst zu finden ist. Das Risiko: Die KI muss ausreichend verlässlich bewerten, ob gerade wirklich jemand in Gang drei mehrere Produkte versteckt – oder nur deshalb hektisch agiert, weil er unter Zeitdruck einkauft. „Die Herausforderung ist es, die unstrukturierten Videodaten runterzubrechen auf Momente, in denen die Assistenzsysteme wirklich aktiv werden müssen“, sagt Müller.

Eng damit verbunden ist eine weitere Hürde: Einige Anwendungen sind darauf trainiert, nicht die Bewegungen zu analysieren, sondern die Produkte. Die verändern sich jedoch immer wieder in Design und Form. „Wenn man in einem Geschäft mehrere tausend Artikel vorrätig hat, muss die Software immer wieder neu angelernt werden“, sagt Handelsexperte Horst.

Bei Edeka und Globus an der Kasse

Das alles sorgt dafür, dass die Systeme nicht im Eiltempo in die Supermärkte einziehen. Veesion hat beispielsweise 2018 in Frankreich losgelegt, in 2000 Filialen sei das Programm bereits heute im Einsatz, so David. Jetzt arbeitet sich das Start-up in andere europäische Länder vor, bald auch nach Deutschland. Signatrix sichert laut eigenen Angaben etwa 15.000 Kassen weltweit ab – unter anderem bei Edeka oder Globus. Vor einem Jahr hat das Start-up umgeschwenkt: Zu Beginn hat Signatrix seine Lösungen selbst in jeder einzelnen Filiale installiert. Heute kann die Plattform an Sensorik in den Läden angeschlossen werden, die etwa die Menschen im Laden zählt oder die Temperatur an der Kühltheke misst. Die läuft jedoch auf einem eigenen Server, der in den Supermarkt gestellt wird. Denn die Breitbandanbindung vieler deutscher Geschäfte reicht nicht aus, um die großen Bilddaten schnell zu überspielen und zu analysieren.

Trotzdem ist der Vertrieb mühsam. „Der Weg bis in die Filialen braucht seine Zeit“, räumt Müller ein. Die großen Ketten wählen Dienstleister sorgfältig aus. Und sind kritisch, was Verlässlichkeit und Verfügbarkeit angeht. Zwei Entwicklungen sorgen jedoch für Hoffnung bei den Start-ups. In der Coronapandemie hat sich der stationäre Handel mit dem Thema Sensoren beschäftigt, etwa um Besucherströme zu messen. Diese Daten könnten dank KI noch anders genutzt werden: Die Signatrix-Software kann darauf trainiert werden, blockierte Notausgänge oder geöffnete Kühlregaltüren zu erkennen.

Daneben spekulieren einige Marktbeobachter darauf, dass steigende Preise und die Inflation zu mehr Diebstahl führen. „Der Handel steht unter einem hohen Druck“, sagt Veesion-Gründer David, „die Margen werden immer schmaler und der Diebstahl nimmt in einigen Bereichen zu.“ Zumindest für Deutschland weist der Branchenverband HDE solche Entwicklungen auf Anfrage jedoch aktuell zurück: „Aus unserer Sicht gibt es keinen zwingenden Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Situation der Menschen und der Zahl der Ladendiebstähle.“

Künstliche Intelligenz – Geschichte einer Idee

Die Softwareanbieter setzen darauf, dass sich die Investitionen von Personal zu Software etwas verschieben. Gestiegen sind die Ausgaben für Sicherheit zuletzt allerdings nicht: Über den gesamten Handel hinweg gibt die Branche im Schnitt etwa 0,30 Prozent vom Umsatz aus, um ihre Waren zu sichern, hat das EHI berechnet – „rund 10 Prozent weniger als in den Vor-Corona-Jahren“, heißt es in einem Report aus diesem Sommer.

Datenanalyse ersetzt nicht den Detektiv

Die Programme stoßen ohnehin an entscheidende Grenzen: „Bei allen technischen Lösungen gilt: Sie können nur alarmieren, aber nicht selbst einschreiten“, sagt Handelsexperte Horst. Scannen ja, stoppen nein: Die meisten Anwendungen senden ein Signal je nach Personalstärke an Kassierer, Filialleiter oder Ladendetektiv, manchmal direkt verknüpft mit dem verdächtigen Videoschnipsel. „Die Software macht die alltägliche Arbeit im Laden also gar nicht unbedingt komplizierter“, sagt Signatrix-Gründer Müller.

Doch die eigentliche Konfrontation des potenziellen Diebes, die erneute Kontrolle von Tasche oder Kleidung, die bleibt dem Personal überlassen. Die KI entlastet dabei also vor allem von stumpfen Überwachungsaufgaben, schützt aber nicht aber vor heiklen Momenten. In denen müssen weiterhin die Menschen entscheiden, welche Art von Reaktion angebracht ist. Ein simples Beispiel: Kameras filmen die Einkaufswagen von oben und spielen das Bild auf den Monitor des Kassierers. Der spart sich so den Blick in einen Spiegel – muss aber selbst überlegen, ob er nachfragt. Und an der Selbstbedienungskasse kann ganz versehentlich mal ein Produkt nicht über den Scanner laufen. Folgt dann eine harsche Ansprache oder nur eine freundliche Nachfrage?

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Dabei ist theoretisch mehr möglich: Die Programme der Berliner können mit Alarmanlagen oder anderen Sicherungssystemen verknüpft werden. „Wir können jede Menge technischer Maßnahmen integrieren“, sagt Müller. In Deutschland bevorzugt der Handel jedoch meist diskretere Variante – lautstarke oder blinkende Extras buchen bislang vor allem die ausländischen Märkte. In den USA bieten Techanbieter wie Omnilert etwa an, im Ernstfall Türen zu verriegeln oder direkt Behörden zu alarmieren. Der Fokus der Bildanalyse ist hier aber ein anderer: Das US-Start-up vermarket seine Anwendung als digitales Warnsystem vor Waffenträgern oder gar Schießereien.

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