Stoische Philosophie als Lebenshilfe Standhalten, ruhig bleiben, Charakter zeigen

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„Sein eigenes Eigentum werden“

Es geht den Stoikern nicht um Erfüllung, sondern um Zufriedenheit, um den Gleichtakt der Seele. Das gilt erst recht für die jüngere Stoa, die zu Beginn der römischen Kaiserzeit entsteht, zur Zeit des Augustus, als das Reich expandiert und ungeahnte gesellschaftliche Dynamiken freisetzt. Flucht- und Angelpunkt der stoischen Philosophie ist das Ich, seine gelungene Selbstbehauptung. Seneca, der aus Spanien stammende römische Adlige, der als Schüler mit den Lehren der Stoa bekannt wird und in Rom politische Karriere macht, später zum Senator und Spin-Doktor des Kaiserhauses avanciert, hat seine Lehren als therapeutische Wegweisungen verstanden, als eine Art „Coaching-Methode“, wie Carrère sie nennt: Ihr Ziel besteht darin, das Selbst von Abhängigkeiten zu befreien. Das aber gelingt nur durch die Übung des Verzichts, die Beherrschung der Leidenschaften: Indem der Einzelne seine Gefühle auf Eis legt, wird er unempfindlich gegen das Schicksal.

Über sich selbst „die größte Macht zu haben, sein eigenes Eigentum zu werden“, sagt Seneca im 75. Brief an Lucilius, sei ein „unschätzbares Gut“, es gewährt innere Freiheit. Autark, sich selbst genug, wird der Stoiker erst, indem er sich auf die Dinge konzentriert, die in seiner Macht stehen, die er beeinflussen und verändern kann. Dem, was nicht von ihm abhängt, den kleineren und größeren Katastrophen des Lebens, auch den langfristigen, nicht planbaren Folgen des eigenen Handelns, erst recht dem Tod begegnet er hingegen gelassen. Er nimmt das Schicksal hin, als „Grenze seines Handelns“ (Robert Spaemann), hält es aus, fügt sich ins Unabänderliche, ja, „stimmt ihm zu“, in einem Akt der Freiheit, wie Seneca in seinem 96. Brief an Lucilius schreibt.

Die Stoa sei deshalb, bei allen resignativen Tendenzen, eine „optimistische, weltbejahende Lehre“, sagt der in Freiburg lehrende Philosoph Andreas Urs Sommer. Ihre Protagonisten stünden mitten im Leben: Seneca habe nicht das geringste Problem damit, als Philosoph nüchterne Politik und Bankgeschäfte zu betreiben. Er rate nicht zum Bruch mit der Welt, sondern zum klugen Arrangement. Ihr Realismus mache die stoische Lehre anschlussfähig, ihr Stil verleihe ihr Weltläufigkeit, ihre Botschaft ziele auf die „Machbarkeit“ des Glücks. Seelenruhe, so Sommer, sei erreichbar durch „Minimierung der Angriffsfläche, die man dem Schicksal bietet“, durch „Ermäßigung der Ansprüche“, durch „Arbeit an der Seele“.

Wie gehen Sie mit Stress und Ärger um?

Dass unbewusste Regungen Herrschaft über uns gewinnen, ist den Stoikern zuwider. Die Frage nach der „inneren Führung“ beantworten sie mit Verweis auf die natürliche Hierarchie: Der Verstand übernimmt das Kommando. Auch die Stoiker kennen die Macht der Gefühle. Doch Angst ist schon für den griechischen Denker Chrysipp die Folge mangelnder Urteilsfähigkeit. Sie beruht auf einer falschen Deutung der Welt, auf disziplinlosem Denken. Erst die Vernunft, das Freisein von Leidenschaften sichern nach Seneca innere Unabhängigkeit. Gibt uns „Stärke“ und „Selbstkontrolle“, wie Ryan Holiday sagt, lehrt uns gar „bessere Unternehmer, bessere Freunde, bessere Menschen zu werden“, wenn wir uns auf die Technik verstehen, „negative Emotionen“ in Logik zu transformieren.

Gewiss, auch über das Ideal der Seelenruhe kann man sich lustig machen: Der französische Althistoriker Paul Veyne vergleicht den stoischen Weisen ironisch mit einem „Wärmeregler“: Bei Schwankungen in der Umgebung halte er die innere Temperatur konstant auf der gleichen Stufe. Doch genau darum geht es der Stoa: um Beständigkeit, um Halt und Sicherheit in einer haltlosen und unsicheren Welt. Das sei die „große Stärke“ der Stoa, sagt der in Kiel lehrende Philosoph Ralf Konersmann, der im vergangenen Jahr in seinem Buch „Die Unruhe der Welt“ Senecas Denken als Provokation der Moderne beschrieben hat: Die Stoa leiste „Reduktion von Komplexität“, ermögliche „Sicherheit des Handelns“, gebe auf drängende Lebensfragen „sach- und situationsangemessene“ Antworten, die nicht willkürlich, nicht moralistisch gesetzt, sondern aus der „Natur der Dinge“, aus dem „Sein der Welt“ heraus entwickelt werden.

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Darin stecke ein „emphatisches Bekenntnis“ zur Philosophie: Das Denken wirkt therapeutisch schon dadurch, dass es uns beruhigt, die Vernunft eröffnet uns Einsichten, die sich bewähren, wenn wir ihnen folgen, denn so „gewinnen wir Halt“. Die Welt halte uns, wenn wir uns an die Gegebenheiten halten, anstatt eigensinnig gegen sie zu rebellieren. Wenn wir sie „richtig ansehen“, anstatt uns von ihr „erschrecken und bedrohen“ zu lassen. Konersmann versteht das stoische Ideal der inneren Ruhe nicht als etwas Statisches, als „Wohlfühlerlebnis“, das in „splendid isolation“ gepflegt werden will, sondern als Projekt, das uns aufgegeben ist: Der Weg in die Ruhe führt über die „Unruhe der Welt“, ist hart und beschwerlich, muss mit ihr abgestimmt, ihr abgerungen werden.

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