Tauchsieder
Sisyphos Illustration Quelle: imago images

Die Lüge von der Leistungsgesellschaft

Warum glauben wir, Leistung sei objektiv messbar und beweiskräftig zu quantifizieren: in Lohnsummen, Zensuren und Intelligenzquotienten? Ein Plädoyer für einen Leistungsbegriff, der sich nicht in Anstrengung erschöpft.

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In der Physik ist die Sache herrlich einfach: Leistung ist Arbeit pro Zeit. Benötigt Sisyphos zum Beispiel anfangs eine Stunde, um seinen Stein den Berg hinaufzurollen, so ist seine Leistung geringer, wenn er dafür im fünften Versuch zwei Stunden benötigt. Doch wäre damit wirklich schon alles gesagt über die Leistung des Sisyphos? Offenbar nicht.

Ökonomisch betrachtet, zum Beispiel, leistet Sisyphos gar nichts: Seine Arbeit ist wertlos, seine Kraft verschwendet – sein Output null. Und doch können wir ihm wegen seines Strebens nicht die Anerkennung verweigern, sind wir geneigt, seiner dauernden Mühe Respekt zu zollen.

Denn im sozialen Leben ist Leistung eine Zuschreibung: Wir Menschen handeln miteinander aus, was wir unter Leistung verstehen, welchen Wert wir ihr beimessen, welche Art von Leistung wir hochschätzen und honorieren. Der französische Philosoph Albert Camus hat sich Sisyphos sogar als glücklichen Menschen vorgestellt, weil er die Sinnlosigkeit seines Daseins akzeptiere und sich zum „Herrn seiner Tage“ aufschwinge – zum Souverän seines selbstbestimmten Lebens.

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Leistung, so gesehen, fände ihren Maßstab weder am Grad der Anstrengung noch an einem Ergebnis, weder an der Qualität eines Resultats noch an dessen Quantität, sondern an der Ernsthaftigkeit, mit der ein Mensch seine Existenz annimmt, sein Leben gestaltet, seinem Dasein einen Sinn verleiht – liberal gesprochen: an der Unschärfe dessen, was jeder Mensch für sich unter einem gelingenden Leben versteht, an einer je individuell realisierten Summe von Freiheit, Geld, Reputation, Arbeit, Zeit, Selbstgenuss, Gemein- und Familiensinn: an der persönlichen Lebensleistung.

Umso merkwürdiger, dass wir stillschweigend akzeptieren, Leistung ließe sich objektiv messen, beweiskräftig quantifizieren und allgemeingültig ausdrücken: in Lohnsummen und Preisgeldern, Zensuren und Rekordzeiten, Intelligenzquotienten und Bruttoinlandsprodukten. Zumal das Paradigma einer zur Zahl verdichteten Leistung ja auch der Legitimationsgrundlage moderner „Leistungsgesellschaften“ widerspricht. Das Bürgertum war im 18. Jahrhundert angetreten, die Reichtumsbildung von der Herkunft zu entkoppeln und abhängig zu machen von der individuellen Leistung. Seither gehört das „meritokratische Prinzip“ zu den Grundpfeilern unserer Sozialordnung; seither schätzen wir die Tatkraft eines Menschen höher ein als dessen Status, Titel, Rang. Wer also verkennt, dass es eine Rolle spielt, ob ein Kind aus „gutem Haus“ oder „schwierigen Verhältnissen“ sein Abitur mit einer 2,0 abschließt, weil seine Eltern sich Nachhilfe leisten können oder nicht, verkennt auch den Charakter des bürgerlichen Leistungsbegriffs.

Und das ist noch nicht alles. Denn auch die leichtliberale Erzählung von einer „Leistung, die sich lohnen muss“, ist hochgradig defizitär: Sie täuscht einerseits vor, dass es eine definierbare, überprüfungsfähige Form von Leistung gibt, für deren Erbringung man zielgenau honoriert werden könne – und isoliert andererseits eine singuläre, individuelle Leistung von den kollektiven, sozialen Voraussetzungen, denen sie sich verdankt. Aus Großbritannien aber wäre ohne die Arbeit der Kolonialisierten kein „Empire“ geworden. Fritz Haber hätte niemals den Nobelpreis für Chemie errungen, wenn seine genauso begabte Frau Clara Immerwahr sich nicht freiwillig in seinen Dienst gestellt hätte. Apple verdankt seine Barreserven nicht der Genialität von Steve Jobs und Tim Cook, sondern vor allem seinen Foxconn-Arbeitern in China. Und Sebastian Vettel wird nur dann Formel-1-Weltmeister, wenn sein Team ihm ein wettbewerbsfähiges Auto zur Verfügung stellt. Insofern taugt auch Camus’ Sisyphos nicht zum einsamen Helden eines modernen Leistungsbegriffs: Wer Leistung physikalisiert, ökonomisiert oder individualisiert, vermag ihren Kern nicht zu erfassen.

Woher aber rührt das verzerrte, männlich-heroische Bild, das wir uns heute immer noch von „Leistung“ machen, speziell in der Wirtschaft? Ganz sicher von den idealtypischen Unternehmern, an denen sich die beiden Soziologie-Ökonomen Max Weber und Joseph Schumpeter Anfang des 20. Jahrhunderts berauschten: an charismatischen Führern, die allein dem Rationalitätsimperativ der Moderne, dem sinnleeren Fachmenschentum enthoben sind (Weber) – und an den künstlerisch-schöpferischen Pionieren, die „kraftvoll aus der Masse emporragen“, weil sie „die Regeln ihres Handelns in sich tragen“ (Schumpeter). Das alles klingt ein bisschen nach Camus und Sisyphos und ganz stark nach Friedrich Nietzsche und Zarathustra, nach Krieg und Kraft des schaffenden Selbst, nach dem „Spiel“ und der „Gefahr“, die den „echten Mann“ fordern – den Mann, für den „alles am Weibe“ eine Lösung haben muss: „sie heißt Schwangerschaft“.

Ein Ende der Leistung? Hoffentlich nicht!

Gewiss, das Leitbild des immer kampfbereiten Managers, der Ruhe an der Heimatfront benötigt, um das Beste aus sich herauszuholen und seiner karitativ engagierten Gattin daher nur die Aufgabe der Zurschaustellung ihres geliehenen Prestiges zuweist, ist glücklich überholt. Aber die aktivistisch-akklamatorische Bereitschaft, die Außergewöhnlichkeit einer „individuellen Leistung“ zu bewundern, ist in der Welt der Wirtschaft noch so intakt wie sonst nur im Bereich des Sports und der Popkultur.

Im Doppelpass mit dem Wirtschaftsjournalismus erschließen Manager/-innen heute täglich aufs Neue die semantischen Felder von Mut und Entschlossenheit, Führung und Kraft, Potenzial und Energie – mit der Folge, dass sich das unternehmerische Leistungsparadigma als unisexueller Selbstanspruch verallgemeinert, sich als internalisierte Norm buchstäblich in uns hineinfrisst: so sehr, dass wir uns nicht nur verpflichtet fühlen, immer Leistung zu bringen, sondern sie auch immer zu steigern. „Ego plus ultra“, ich immer weiter, über mich selbst hinaus, was meine Kompetenzen, Fähigkeiten und Netzwerkerfolge anbetrifft – wie dominant diese enge, solipsistische Leistungsideologie ist, das erfahren viele dann erst, wenn sie ihr nicht mehr genügen können: Stress. Erschöpfung. Depression.

Müssen wir uns von diesem Leistungsbegriff verabschieden? Ein Teil der Geldelite hat es längst getan, hat von Leistung auf Erfolg umgestellt, von Arbeit, Prinzipientreue und Aufrichtigkeit auf Schläue, Opportunismus und Weltgewandtheit – bestenfalls. Denn was sich Nutznießer ererbter Vermögen und Immobilien vor allem leisten können, ist Anstrengungslosigkeit.

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Billionen werden in diesen Jahren von einer Generation an die nächste weitergereicht. Wir erleben den Umschlag von einer Leistungs- in eine Besitzgesellschaft, in der das Wachstum der Lohneinkommen hinter dem Wachstum der Kapitaleinkünfte und Mieterträge zurückbleibt (Thomas Piketty) – erleben die „Entmarktlichung“ der leistungslos Vermögenden einerseits und die „Vermarktlichung“ breiter Bevölkerungsschichten andererseits, so der Soziologe Sighard Neckel: Jene sind allen Zwängen der Leistungserbringung enthoben. Diese zur Leistungskonkurrenz verdammt. Es sei denn, sie ließen sich mit einem bedingungslosen Grundeinkommen ruhigstellen und digital bewirtschaften, so wie es etwa Facebook-Chef Mark Zuckerberg vorschwebt.

Ein Ende der Leistung? Hoffentlich nicht! Wir haben die Wahl, welche Leistung wir schätzen. Die Historikerin Nina Verheyen zeichnet in ihrem Buch „Die Erfindung der Leistung“ sehr beispielreich die Geschichte der Nachweise, Zeugnisse und Zulassungen nach: einerseits als Geschichte der ungleichen Verteilung (und der Verteidigung) von Zugangsmöglichkeiten. Andererseits als moderne Geschichte der Rationalisierung und Standardisierung. Zugespitzt formuliert: Der gottgewollten Ständeordnung wichen im Verlauf des 19. Jahrhunderts prüfstatistische Methoden, um Menschen ihren Platz in der Gesellschaft anzuweisen. An vielen Universitäten wurde weiterhin lateinisch gelehrt, um die Demokratisierung der Bildung aufzuhalten. Militärs nutzten den IQ-Test, um ihr Personal zu sortieren. Unternehmen richteten sich bei der Einstellung eines Mitarbeiters nach dessen Zensuren. Und in Sportwettbewerben wurden nicht mehr nur Vor-Ort-Sieger ermittelt, sondern auch global vergleichbare Rekorde.

Dass Leistung auch ganz anders verstanden werden kann, nicht als aggregierte Zahl und Wert an sich, sondern als soziales Vermögen, als etwas, dass man einem anderen, der Familie, dem Freund, dem Staat oder der Gesellschaft gönnt, gibt und schuldet, das weiß jeder, der schon mal bei Adalbert Stifter oder Thomas Mann vorbeigelesen hat. Man kann diese Form der Leistung heute als Förmlichkeit gesellschaftlicher Pflichterfüllung abtun. Oder aber als ein modernes System der Gegenleistungen begreifen.

Tatsächlich sind wir längst auf dem Weg dorthin, zu einem postheroischen Leistungsverständnis: Wir bemessen die Leistung eines Autos nicht mehr an seinen PS, sondern auch an seiner Umweltbilanz. Wir finden neue Väter toll, die sich nicht im Job, sondern für ihre Familien verausgaben. Wir arbeiten gern teamorientiert, stellen den Numerus clausus infrage, honorieren Pflegekräfte besser, weil wir meinen, sie hätten es verdient – und kommen schon lange nicht mehr auf die Idee, der Wohlstand unserer Nation drücke sich allein im Bruttoinlandsprodukt aus.

Gar keine schlechte Leistung.

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