Tauchsieder
Sisyphos Illustration Quelle: imago images

Die Lüge von der Leistungsgesellschaft

Warum glauben wir, Leistung sei objektiv messbar und beweiskräftig zu quantifizieren: in Lohnsummen, Zensuren und Intelligenzquotienten? Ein Plädoyer für einen Leistungsbegriff, der sich nicht in Anstrengung erschöpft.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

In der Physik ist die Sache herrlich einfach: Leistung ist Arbeit pro Zeit. Benötigt Sisyphos zum Beispiel anfangs eine Stunde, um seinen Stein den Berg hinaufzurollen, so ist seine Leistung geringer, wenn er dafür im fünften Versuch zwei Stunden benötigt. Doch wäre damit wirklich schon alles gesagt über die Leistung des Sisyphos? Offenbar nicht.

Ökonomisch betrachtet, zum Beispiel, leistet Sisyphos gar nichts: Seine Arbeit ist wertlos, seine Kraft verschwendet – sein Output null. Und doch können wir ihm wegen seines Strebens nicht die Anerkennung verweigern, sind wir geneigt, seiner dauernden Mühe Respekt zu zollen.

Denn im sozialen Leben ist Leistung eine Zuschreibung: Wir Menschen handeln miteinander aus, was wir unter Leistung verstehen, welchen Wert wir ihr beimessen, welche Art von Leistung wir hochschätzen und honorieren. Der französische Philosoph Albert Camus hat sich Sisyphos sogar als glücklichen Menschen vorgestellt, weil er die Sinnlosigkeit seines Daseins akzeptiere und sich zum „Herrn seiner Tage“ aufschwinge – zum Souverän seines selbstbestimmten Lebens.

Karriere, Kinder, Konkurrenz und Unsicherheit: Die Rush Hour des Lebens geht an den 25- bis 35-Jährigen nicht ohne Blessuren vorüber. Überdurchschnittlich viele von ihnen fühlen sich im Job psychisch gestresst.
von Nora Schareika

Leistung, so gesehen, fände ihren Maßstab weder am Grad der Anstrengung noch an einem Ergebnis, weder an der Qualität eines Resultats noch an dessen Quantität, sondern an der Ernsthaftigkeit, mit der ein Mensch seine Existenz annimmt, sein Leben gestaltet, seinem Dasein einen Sinn verleiht – liberal gesprochen: an der Unschärfe dessen, was jeder Mensch für sich unter einem gelingenden Leben versteht, an einer je individuell realisierten Summe von Freiheit, Geld, Reputation, Arbeit, Zeit, Selbstgenuss, Gemein- und Familiensinn: an der persönlichen Lebensleistung.

Umso merkwürdiger, dass wir stillschweigend akzeptieren, Leistung ließe sich objektiv messen, beweiskräftig quantifizieren und allgemeingültig ausdrücken: in Lohnsummen und Preisgeldern, Zensuren und Rekordzeiten, Intelligenzquotienten und Bruttoinlandsprodukten. Zumal das Paradigma einer zur Zahl verdichteten Leistung ja auch der Legitimationsgrundlage moderner „Leistungsgesellschaften“ widerspricht. Das Bürgertum war im 18. Jahrhundert angetreten, die Reichtumsbildung von der Herkunft zu entkoppeln und abhängig zu machen von der individuellen Leistung. Seither gehört das „meritokratische Prinzip“ zu den Grundpfeilern unserer Sozialordnung; seither schätzen wir die Tatkraft eines Menschen höher ein als dessen Status, Titel, Rang. Wer also verkennt, dass es eine Rolle spielt, ob ein Kind aus „gutem Haus“ oder „schwierigen Verhältnissen“ sein Abitur mit einer 2,0 abschließt, weil seine Eltern sich Nachhilfe leisten können oder nicht, verkennt auch den Charakter des bürgerlichen Leistungsbegriffs.

Und das ist noch nicht alles. Denn auch die leichtliberale Erzählung von einer „Leistung, die sich lohnen muss“, ist hochgradig defizitär: Sie täuscht einerseits vor, dass es eine definierbare, überprüfungsfähige Form von Leistung gibt, für deren Erbringung man zielgenau honoriert werden könne – und isoliert andererseits eine singuläre, individuelle Leistung von den kollektiven, sozialen Voraussetzungen, denen sie sich verdankt. Aus Großbritannien aber wäre ohne die Arbeit der Kolonialisierten kein „Empire“ geworden. Fritz Haber hätte niemals den Nobelpreis für Chemie errungen, wenn seine genauso begabte Frau Clara Immerwahr sich nicht freiwillig in seinen Dienst gestellt hätte. Apple verdankt seine Barreserven nicht der Genialität von Steve Jobs und Tim Cook, sondern vor allem seinen Foxconn-Arbeitern in China. Und Sebastian Vettel wird nur dann Formel-1-Weltmeister, wenn sein Team ihm ein wettbewerbsfähiges Auto zur Verfügung stellt. Insofern taugt auch Camus’ Sisyphos nicht zum einsamen Helden eines modernen Leistungsbegriffs: Wer Leistung physikalisiert, ökonomisiert oder individualisiert, vermag ihren Kern nicht zu erfassen.

Woher aber rührt das verzerrte, männlich-heroische Bild, das wir uns heute immer noch von „Leistung“ machen, speziell in der Wirtschaft? Ganz sicher von den idealtypischen Unternehmern, an denen sich die beiden Soziologie-Ökonomen Max Weber und Joseph Schumpeter Anfang des 20. Jahrhunderts berauschten: an charismatischen Führern, die allein dem Rationalitätsimperativ der Moderne, dem sinnleeren Fachmenschentum enthoben sind (Weber) – und an den künstlerisch-schöpferischen Pionieren, die „kraftvoll aus der Masse emporragen“, weil sie „die Regeln ihres Handelns in sich tragen“ (Schumpeter). Das alles klingt ein bisschen nach Camus und Sisyphos und ganz stark nach Friedrich Nietzsche und Zarathustra, nach Krieg und Kraft des schaffenden Selbst, nach dem „Spiel“ und der „Gefahr“, die den „echten Mann“ fordern – den Mann, für den „alles am Weibe“ eine Lösung haben muss: „sie heißt Schwangerschaft“.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%