Tauchsieder

Das Buch - eine Grabrede

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Neue Medien gewöhnen die Jugend früh an Selektion

Ob Sie es glauben oder nicht: Es gibt eine App namens Blinkist, die „große Ideen“ in „cleveren Kurztexten“ - sogenannte „Blinks“ - auf den Punkt zu bringen verspricht, damit ihre Nutzer sich nicht nur die Buchlektüre ersparen, sondern auch „mit ihren Noten glänzen“ oder einfach nur „jeden Tag etwas dazulernen“ können. Am besten, man stellt sich das Angebot als eine Art intellektuellen Dauerkurzschluss nach dem Muster des Kleine-Welt-Phänomens vor: So wie jeder Mensch auf der Erde mit jedem anderen über eine verblüffend kurze Kette von Bekanntschaftsbeziehungen verbunden ist, so kann man mithilfe von Blinkist alle noch so aufwendige Gedankenarbeit über verblüffend kurze Assoziationsketten für jedes beliebige Hirn anschlussfähig machen. Alles, was es dazu braucht, ist ein gerüttelt Maß Geistesarmut.

Mit Blick auf Timothy Snyders „Bloodlands“ und „Die Schlafwandler“ von Christopher Clark kann man etwa lernen, dass „totalitäre Regimes bösartige Machthaber“ hervorbringen und Geschichte „oft unterschiedliche Seiten“ hat. Hammer! Scheint echt 'ne komplexe Sache zu sein, die Welt. Also auch früher schon.

Alles nur kulturkritisches Geraune? Von wegen. Renate Köcher vom Institut für Demoskopie Allensbach hat in der FAZ diese Woche auf sehr bodenständige, datengesättigte Weise auf die Folgen der veränderten Mediennutzung hingewiesen. Während sich mit „der Ausbreitung des Fernsehens“ in den Sechzigerjahren „der Anteil politisch Interessierter verdoppelt“ hat, so Köcher, grenze das Internet das „Interessenspektrum“ seiner Nutzer deutlich ein. Der Anteil der unter 30-Jährigen zum Beispiel, die sich mindestens begrenzt für Wirtschaftsthemen interessieren, habe sich seit 2000 von 44 auf 37 Prozent verringert, so Köcher. Anders gesagt: Das Internet senkt nicht nur die Schwellen zur Information - es schmälert im Schnitt auch unser vernetzbares Wissen.

Die neuen Medien gewöhnen „Jugendliche schon früh an Selektion“, so Köcher weiter, „also daran, die Themen abzurufen, die sie von vornherein interessieren“: Sie unterlaufen „die kontinuierliche Auseinandersetzung mit Themen“. Übrigens nicht zuletzt deshalb, weil das Wissen, dass Informationen jederzeit zur Verfügung stehen, den Wert ihrer kontinuierlichen Bearbeitung und Verarbeitung infrage stellen. Kurz, der Konjunktiv der netz-theoretischen Abrufbarkeit von Wissen siegt über den Indikativ der lese-praktischen Aneignung. Eine Gesellschaft aber, „die sich zunehmend ungeduldiger, weniger regelmäßig, sondern anlass- und bedarfsgetrieben informiert“, so Köcher, laufe Gefahr, ihre Urteile stärker unter dem Einfluss von „Aufregungszyklen und Sonderereignissen zu bilden und nicht auf einem belastbaren Wissensfundament, das auch die Einordnung erleichtert“.

Und damit nicht genug. Denn in der digitalen Welt von heute und morgen promoviert der Mensch zu einer Art Informationsschnittstelle, die laufend Daten konsumiert und liefert. Das heißt, wir eilen einem Zeitalter entgegen, in dem wir jederzeit verbunden sein werden mit der Gegenwart - und zunehmend abgeschnitten vom kulturellen Erbe der Menschheit. In dem wir unbegrenzten Zugang zu allem und zu jedem haben, aber nicht mehr im Gespräch mit Autoren, Büchern, Texten der Vergangenheit sind. Der New Yorker Medientheoretiker Douglas Rushkoff hat das auf den schönen Begriff (und Buchtitel) „Present Shock“ gebracht: Vergangenheit und Zukunft spielen ganz einfach deshalb keine Rolle mehr, weil wir sie vor lauter Gegenwart nicht mehr bemerken. Die meisten Leser seines Werkes etwa, so Rushkoff, würden es allenfalls noch quer oder auszugsweise lesen, sich vor allem aber ganz schnell wieder anderen Informations- und Unterhaltungsquellen zuwenden.

Der Grund dafür ist weniger, wie oben angedeutet, dass das geschriebene Wort sich vom Trägermedium Buch löst. Auch nicht, dass es auf dem Tablet-Computer in unmittelbarer Nachbarschaft zu anderen Informations- und Unterhaltungsangeboten steht, die mit ihm um die Aufmerksamkeit des Medienkonsumenten ringen. Sondern der Grund ist vor allem, dass es keine allgemeine Verbindlichkeit von Information mehr gibt, kein Empfinden für einen Fortschritt, einen Diskurs, der unsere Erfahrungen, unser Denken, unser Tun bündelt. Die Zeit der „großen Bücher“ etwa ist unwiderruflich vorbei. Kein noch so gescheites Werk eines Dichters oder Denkers ist heute noch so obligat wie ehedem der neue Günter Grass, so definitiv wie ein Essay von Jürgen Habermas. Oder anders gesagt: Ein Buch ist heute exakt das, was seine Leser zu nichts mehr verbindet. Stattdessen haben wir uns daran gewöhnt, "a tempo zu lesen, nämlich alle stets das Selbe,… das Neueste", so Arthur Schopenhauer bereits vor 150 Jahren und: „Weil die Leute, statt des besten aller Zeiten, immer nur das Neueste lesen,..., verschlammt das Zeitalter immer tiefer in seinem eigenen Dreck.“

Wohin das führt, haben wir zuletzt während der Finanzkrise erlebt: zur Hybris einer funktionalen Intelligenz und technischen Vernunft, die sich unbedingt auf der Höhe ihrer Zeit meint. Zu prozyklischen Autosuggestionen wie der mathematischen Beherrschbarkeit von Risiken. Zum Triumph algorithmisch frisierter Modelle und statistisch scheinbar abgesicherter Meinungsmoden. Man darf es ruhig ein wenig pathetisch formulieren: Von der Fähigkeit zur lesenden Flucht aus der Schnittstelle hängt heute ab, ob wir die Welt überhaupt noch „zu lesen“ vermögen: nicht nur als sich vollziehende Gegenwartstatsache, sondern gleichsam von außen: auch als Raum des Eventuellen, Möglichen, Offenen und Anderen. Das Buch wird zum Fluchtraum. Das Lesen zum Akt des Widerstandes. Der Rest wird instantanes Präsenzrauschen sein.

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