Günter Wallraff und seine Perücke - sie sind einfach ein unschlagbares Team: Wo der Investigativjournalist sich den Haarfetzen überstülpt, werden Missstände aufgedeckt und die Bösen enttarnt. Dieses Mal führt der Weg der beiden nach Süddeutschland, wo Wallraff als Tourist verkleidet eine sogenannte „Maßnahme“ des örtlichen Jobcenters besucht: Eine Lama-Wanderung, bei der Arbeitslose mit Urlaubern und Tieren zwei Stunden lang spazieren gehen.
Zwei Arbeitslose halten jeweils ein Lama an der Leine. In einer langen Schlange marschieren sie durch den nicht näher genannten Ort. Das wirkt so absurd, dass es fast zum Lachen wäre, wenn es nicht um ein ernstes Thema gehen würde.
Aus diesen Gründen bekommt nicht jeder Arbeitslose auch Geld
Nicht jeder, der seinen Job verliert, hat auch einen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Das entscheidende Schlagwort ist hier die Anwartschaftszeit, also wie lange jemand gearbeitet hat, bevor er Arbeitslosengeld in Anspruch nehmen möchte/muss. Die Regelanwartschaftszeit hat erfüllt, wer in den letzten zwei Jahren vor der Arbeitslosmeldung mindestens zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hat.
Wer zwar gearbeitet hat, aber nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt war, hat ebenfalls keinen Anspruch. Wer sich also schwarz etwas nebenher verdient hat, kann das nicht als reguläre Beschäftigung geltend machen.
Die Dauer des Arbeitslosengeldanspruchs beträgt sechs bis 24 Monate. Sie ist abhängig vom Lebensalter und der Dauer der vorherigen Versicherungspflichtverhältnisse (§ 147 Abs. 2 SGB III). Danach gilt der Anspruch auf Arbeitslosengeld als aufgebraucht, bis die vorangegangenen Bedingungen wieder erfüllt sind. Wer also zum Beispiel nach einem Jahr keinen neuen Job hat, kann das Arbeitslosengeld I nicht neu beantragen, sondern bekommt Arbeitslosengeld II.
Das Arbeitslosengeld II (Hartz IV) ist einkommensabhängig (§ 9 Abs. 1 SGB II). Menschen, deren Partner beziehungsweise Partnerin ausreichend verdienen, um die Existenz beider zu sichern, haben keinen Anspruch darauf.
„Kunden“ werden die Arbeitslosen von den Jobcenter-Mitarbeitern genannt, „Kundenparkplätze“ nennen sie dann folgerichtig die Maßnahmen, in die die Arbeitssuchenden gesteckt werden: Bewerbungstrainings, Motivationscoachings, Lama-Wanderungen – zum großen Teil sinnlose Veranstaltungen, urteilt Wallraff.
„Das ist wie eine Art vorsätzliche Körperverletzung, die man an den Leuten begeht“, sagt Wirtschaftswissenschaftler Stefan Sell, der früher selbst ein Arbeitsamt leitete, in die Kamera. „Weil man sie reintreibt in eine Situation, die am Ende ihren Zustand oftmals eher noch verschlimmert.“
"Da wird nur Arbeitslosigkeit verwaltet"
Kein Wunder, dass den Arbeitslosen irgendwann der Kragen platzt: Immer wieder bricht der Frust während der Jobcenter-Veranstaltungen aus ihnen heraus. Gefilmt wird das von einem Informanten des Teams Wallraff. „Ich sehe den Sinn dahinter nicht“, sagt einer. „Ich bin eigentlich ein bisschen entsetzt.“
Doch für die Jobcenter machen die Maßnahmen Sinn. Allein schon aus statistischen Gründen, wie Wallraff in seiner Sendung vorrechnet: 2,7 Millionen Menschen waren im vergangenen Oktober offiziell arbeitslos. 450.000 Menschen, die zwar Arbeitslosengeld beziehen, aber an Maßnahmen teilnehmen, werden aus der Statistik so herausgerechnet. Auch 254.000 krank gemeldete und 168.000 ältere Arbeitslose tauchen nicht auf. Weitere 294.000 fehlen laut den Recherchen von "Team Wallraff" aus unbekannten Gründen in der Arbeitslosenstatistik.
Die Zahl der Erwerbslosen ist also deutlich höher, als offiziell angegeben – und damit auch die Belastung für die Jobcenter, sagt Wallraff. Er schickt seinen Kollegen Torsten Misler als Praktikant in mehrere Jobcenter und lässt ihn Gespräche mit Arbeitsvermittlern filmen.
Die Hartz IV-Vorschläge der Arbeitsagentur
Der Bewilligungszeitraum ist derzeit auf sechs Monate festgelegt. Danach muss Hartz IV neu beantragt werden. Der Vorschlag sieht vor, den Zeitraum gesetzlich auf grundsätzlich zwölf Monate festzulegen. Nur in Ausnahmefällen sollte eine Abweichung nach unten zugelassen werden.
Bisher wird bei den Sanktionen unterschieden, ob ein Bezieher einen Termin im Jobcenter verpasst oder eine vom Jobcenter vorgeschlagene Maßnahme ablehnt – die Kürzungen sind unterschiedlich. Die Arbeitsagentur will das angleichen. Dann würden beide Fälle gleich bestraft, nämlich mit bis zu 30 Prozent weniger Geld.
Selbstständige sollen nach Vorstellungen der Bundesagentur für Arbeit (BA) nur noch für eine Übergangsfrist Hartz IV beziehen dürfen. Auch sollen sie künftig nur noch in eng begrenztem Rahmen ihren Gewinn mit Betriebsausgaben schmälern können. Derzeit beziehen nach Angaben des BA-Vorstandsmitglieds Heinrich Alt bundesweit rund 125.000 Selbstständige Hartz IV, weil ihre Einkünfte zum Leben nicht ausreichten.
Kommt es zu einer Mieterhöhung, muss die Übernahme der Kosten vorher beantragt werden. Ansonsten übernimmt die Arbeitsagentur die höhere Miete nicht.
Kleinbeträge will das Jobcenter in Zukunft nicht mehr zurückfordern. Die sogenannte Bagatellgrenze soll bei 50 Euro liegen – bei allen darunter liegenden Beträgen sollen die Jobcenter künftig auf das Eintreiben von zu viel gezahltem Arbeitslosengeld II verzichten.
Die zusammengeschnittenen Zitate zeichnen ein desaströses Bild der Arbeitsagentur. „Es geht doch hier nur darum, dass die Zahlen stimmen. Der Mensch bleibt hier doch so oft auf der Strecke“, sagt eine Mitarbeiterin. Und eine andere Kollegin: „Bei aller Schönrederei: Da wird nur Arbeitslosigkeit verwaltet. Da passiert nicht wirklich was.“
Das Problem: Laut Misler sind Jobcenter-Mitarbeiter für 250 bis 500 Arbeitslose zuständig. Vorgesehen sind eigentlich 150 „Kunden“ pro Sachbearbeiter. Für eine wirkliche Beratung bleibt da keine Zeit. So wirken denn auch die Mitarbeiter im Film vollkommen überfordert.
Briefe landen ungeöffnet im Müll
Arbeitslose müssen teilweise Monate warten, bis ihre Anträge bearbeitet werden, zeigt die Reportage. „Grundsätzlich wollen die meisten Arbeitsvermittler helfen“, sagt Misler. „Nach Jahren haben viele aber auch resigniert.“
Da hilft es nicht, dass die Mitarbeiter der Jobcenter teilweise selbst von der Arbeitslosigkeit bedroht sind. Einige berichten von befristeten Verträgen und „Hire and Fire“-Methoden. Eine Mitarbeiterin sagt, sie lerne die neuen Kollegen gar nicht mehr an, die seien ohnehin bald wieder weg.
Zehn Jahre Hartz IV: Arbeitslosigkeit damals und heute
Rund 2,7 Millionen Menschen in Deutschland - das sind 6,3 Prozent - sind heute arbeitslos (Stand: Oktober 2014). Vor zehn Jahren war noch jeder Zehnte (10,1 Prozent) ohne Job, 4,4 Millionen Menschen hatten keine Arbeit (Stand: Oktober 2004). Im darauffolgenden Jahr erreichte die Arbeitslosigkeit mit rund fünf Millionen Arbeitslosen ihren Spitzenwert seit der Wiedervereinigung. Im Wesentlichen hing diese Entwicklung mit der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammen („Hartz-IV-Effekt“).
Den Zahlen nach zu urteilen haben Frauen heute wie damals kein größeres Risiko als Männer, arbeitslos zu werden. Der tatsächliche Anteil arbeitsloser Frauen dürfte dennoch höher liegen: Statistiker vermuten, dass insbesondere unter Frauen die stille Reserve höher liegt, weil viele keine Vermittlungschancen mehr sehen.
Im Jahresmittel 2004 betrug die Arbeitslosigkeit im Westen 8,5 Prozent, im Osten war sie mit über 18 Prozent mehr als doppelt so hoch.
Der Abstand hat sich inzwischen merklich verringert, ist aber weiterhin groß: Im Westen liegt die Quote heute bei etwa sechs Prozent, im Osten bei etwa zehn Prozent. Während das Potenzial an Menschen, die einer Arbeit nachgehen können, in Gesamtdeutschland stieg, sank es im Osten leicht.
Der Anteil der Arbeitslosen unter 25 Jahren ist in den vergangenen zehn Jahren zwar zurückgegangen. 2005 waren in dieser Altersgruppe noch knapp 15 Prozent arbeitslos, heute hat sich die Zahl mehr als halbiert. Ein Grund zum Jubeln ist das aber nur bedingt: Schließlich sinkt aus demografischen Gründen seit Jahren die Zahl der jungen Erwachsenen insgesamt. Die Arbeitslosenquote der Unter-25-Jährigen liegt seit zehn Jahren konstant etwa drei Prozentpunkte über der Gesamtquote.
In den vergangenen zehn Jahren stieg der Anteil der 55- bis 64-Jährigen an der Gesamtarbeitslosigkeit von 25 auf über 33 Prozent. In absoluten Zahlen waren aber weniger Ältere arbeitslos. Denn auch hier spielt die demografische Entwicklung eine Rolle. 2005 waren gut 15 Millionen Menschen zwischen 50 und 64 Jahre alt, 2015 werden es bereits über 18 Millionen sein. In dieser Gruppe hat sich der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten seit 2005 um knapp zehn Prozentpunkte erhöht, denn die Zahl der arbeitenden Älteren ist auf knapp 9 Millionen angestiegen.
Die bei der Bundesarbeitsagentur gemeldeten offenen Stellen sind in den vergangenen zehn Jahren mehr geworden - mit einem deutlichen Knick zur Finanzkrise 2009. Im Jahr 2005 waren 256.000 Stellen als offen gemeldet, 2013 waren es 434.000. Seit 2012 ist die Zahl der offenen Stellen wieder rückläufig.
Die Folge: Frust und Wut bei den Angestellten. Man könne das Ganze nur mit Sarkasmus durchstehen, sagt eine Mitarbeiterin. Die Überlastung trägt teilweise absurde Blüten: Wenn die Flut der Anträge zu groß wird, würden unkonventionelle Maßnahmen ergriffen, deutet ein Mitarbeiter an.
„Es verschwinden auch schon mal Sachen“, sagt er und nickt vielsagend zu einem Aktenschredder in der Ecke. „Aber das sind keine offiziellen Geschichten.“ Auch eine ehemalige Jobcenter-Angestellte berichtet Wallraff von Arbeitsvermittlern, die Briefe ungeöffnet im Müll verschwinden ließen.
Mehr Personal statt purem Geldeinsatz
Davon habe niemand etwas, sagt Heinrich Alt, Vorstandsmitglieder der Bundesagentur für Arbeit. Schließlich stehe hinter jeder Akte ein Mensch, der bald schon wieder im Jobcenter sei.
Konfrontiert mit Vorwürfen zu unnötigen Maßnahmen, hoher Arbeitsbelastung und langen Bearbeitungszeiten reagiert Alt immer auf dieselbe Weise: Einzelfälle seien das, seine Statistiken zeichneten ein anderes Bild der Arbeitsagentur. Wenn es aber solche Fälle gebe, müsse denen nachgegangen und dringend nachgebessert werden.
Der Vorstandsvorsitzende der Arbeitsagentur, Frank-Jürgen Weise, sagt auf Nachfrage Wallraffs, er wünsche sich mehr Personal statt purem Geldeinsatz bei der Arbeitsagentur.
Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles wollte sich zu den Recherchen nicht äußern. „Aber wir sind immer offen für Gespräche, auch nach der Recherche“, sagt Wallraff aus dem Off.