Chai Monique ist eine Weinbar an der Hauptstraße von Le Bugue, einem beschaulichen, knapp 3000 Einwohner großen Städtchen irgendwo im südlichen Périgord. Martin Walker hat den hintersten Ecktisch gewählt, aber das hilft ihm nicht. Kaum hat er sein Foie Gras und ein Glas weißen Bergerac bekommen, steht eine Touristin vor ihm. Ob er ihr wohl ein Autogramm geben könne? Sie sei ein Fan, kenne alle seine Bücher. Martin Walker kramt bereitwillig einen Stift aus der Tasche und erkundigt sich nach dem Namen. „Franziska? Sind Sie aus Deutschland?“, fragt er. „Nein, aus Graz in Österreich“, antwortet die Dame. „Das kenne ich“, sagt Walker, „ich hatte dort eine Lesung. Hübsche Stadt.“ Er steht auf, lässt sich fotografieren, wünscht einen schönen Urlaub und hat auch noch einen Tipp bereit: Die Croissants der Patisserie Cauet gleich hinter dem Rathaus seien die besten im Ort.
Für alle ein Geschenk
Martin Walker ist Brite, aber er lebt seit 15 Jahren in einem renovierten Bauernhaus am Dorfrand von Le Bugue. Teilweise jedenfalls. Er war 25 Jahre Redakteur bei der britischen Tageszeitung „The Guardian“ und leitete dann einen privaten Thinktank für Top-Manager in Washington. Früher verfasste er Sachbücher über den Kalten Krieg, Gorbatschow und Bill Clinton, jetzt schreibt er vorwiegend Krimis. Seine mittlerweile sieben Bruno-Romane werden in 15 Sprachen übersetzt und sind – trotz der vielen Leichen – die beste Werbung für das Périgord.
Dass Kriminalromane nicht abschreckend wirken, sondern ganz im Gegenteil Touristen an die Orte der Verbrechen locken, ist nicht neu. Schon Agatha Christies Buch „Tod auf dem Nil“ dürfte der Reisebranche kaum geschadet haben. Noch heute werden Nilkreuzfahrten auf den Spuren von Agatha Christie angeboten. Kultstatus erlangte das Hotel Old Cataract in Assuan, in dem die „Queen of Crime“ logierte und in das sie ihren Meisterdetektiv Hercule Poirot zum Dinner schickte. Nach einer Totalrenovierung gehört das Haus heute zur Sofitel-Gruppe, die auch nicht vergaß, eine Agatha-Christie-Suite einzurichten.
Mordsattraktiv: Krimi-Schauplätze
Andrea Camillieris Inspektor Salvo Monatalbano lockt Urlauber in den wenig bekannten Südosten Siziliens. Als Vorbild für das Commissariato di Vigàta dient das Rathaus von Scicli, Montalbanos Haus steht am Strand von Punta Secca, dort befindet sich auch die Bar Arancini di Montalbano, die nach dem Lieblingssnack des Kommissars benannt wurde. Wer mehr wissen möchte, nimmt an einer der geführten Montalbano-Touren teil.
Bei Tom Hillenbrand ist es kein Profi, sondern der Wirt und Koch Xavier Kieffer, der mehrfach, wenn auch stets zufällig, in Kriminalfälle stolpert. Ort der Handlung ist Luxemburg – eine Stadt, die hier liebevoll und detailgenau beschrieben wird. Als Inspirationsquelle diente Luxemburgs Spitzenköchin Lea Linster, die zwar noch nie in einen Mord verwickelt war, bei Tom-Hillenbrand-Lesungen aber gern mitwirkt.
Der im Jahr 2000 verstorbene Kultautor Jean Claude Izzo hat es selber geschrieben: Marseille ist keine Stadt für Touristen. Dass trotzdem viele Besucher kommen, ist zumindest teilweise seiner Trilogie um den melancholischen Ermittler Fabio Montale zu verdanken. Die Bücher – und deren Verfilmung mit Alain Delon in der Hauptrolle – machten den Vieux Port, die engen Gassen des Altstadtviertels Panier und die Meeresfrüchte der Bar de la Marine berühmt.
Dem schrägen Inspektor John Rebus, eine Erfindung des schottischen Bestsellerautors Ian Rankin, ist eine eigene „walking tour“ und sogar eine App gewidmet, die auf seinen Spuren durch Edinburgh führt. Aber eigentlich, so der Autor, geht man als Rebus-Fan am besten gleich in die Oxford Bar an der Young Street, denn The Ox ist das erklärte Lieblingspub von John Rebus (und auch von dessen Erfinder), und es wirbt auch munter damit.
Naschmarkt, Café Sperl, die Gassen der Stadtteile Döbling und Währing – mit so detaillierten wie atmosphärischen Wien-Beschreibungen ergänzt der Wiener Autor Pierre Emme die Recherchen von Mario Palinski, der sich mit Gastrokritiken über Wasser hält und immer nur zufällig in ein Verbrechen verwickelt wird. Der Fall wird fast zur Nebensache, wichtiger sind die Mohnnudeln, die Anspielungen auf reale Persönlichkeiten und das Lokalkolorit.
Wie viele Leser von Manuel Vásquez Montalbán sind dem Privatdetektiv Pepe Carvalho auf seinen Streifzügen durch Barcelonas Boqueria-Markt gefolgt? Wie viele sind bis ins Bretonische Concarneau gereist, um sich wie Jean-Luc Bannalecs Kommissar Dupin im Restaurant L’Amiral mit Entrecôte und Rotwein zu stärken? Offenbar eine ganze Menge, denn im Fenster des Lokals hängt ein Zettel: „Kopien des Buchtitels ,Bretonische Verhältnisse‘ und seines Folgebands ,Bretonische Brandung‘“ – die beiden Bestseller von Jean-Luc Bannalec.
Es soll Touristen geben, die Venedig mit einem aufgeschlagenen Buch von Donna Leon in der Hand erkunden. Das ist zwar spannend, aber nicht ganz einfach, denn die seit mehr als 30 Jahre in Venedig lebende Amerikanerin lässt Comissario Brunetti vorzugsweise durch enge Hintergässchen laufen und in unscheinbaren Bars einkehren, die in keinem Reiseführer stehen. Der Leser lernt, dass Brunetti Käse in der Casa del Parmigiano am Rialto-Markt kauft, seinen Espresso in der Bar Rosa Salva am Campo San Luca trinkt und seine Frau gelegentlich ins Fischlokal Al Covo zum Essen führt. Dessen Patron Cesare Benelli bestätigt, dass manche Gäste wegen der Krimis kämen – besonders beeindruckt wirkt er nicht.
Venedig braucht keine Donna Leon, aber wie sieht es im Périgord aus? „Martin Walker ist zu uns gekommen wie der Weihnachtsmann“, sagt Marie-Pierre Tamagnon, die für die Vereinigung der Bergerac-Weine tätig ist, „er hat für alle ein Geschenk dabei. Seitdem er über unsere Winzer schreibt, interessieren sich auch Ausländer für unsere Weine.“ Nicht nur Winzer profitieren. Offizielle Zahlen belegen den Aufwärtstrend im Tourismus: Zwischen 2010 und 2013 nahm die Zahl der deutschen Gäste in der Region um 30 Prozent zu, bei den Schweizern steigerte sie sich sogar um 35 Prozent. Während im ersten Halbjahr dieses Jahres vier Prozent weniger Franzosen ins Périgord reisten, kamen 21 Prozent mehr Ausländer als im Vorjahr. „Ohne Martin Walker wäre unsere Hotellerie nicht so gut dran“, glaubt Micheline Morissonneau vom Fremdenverkehrsamt der Dordogne.