Umgangsformen Die Umarmung ist der neue Handschlag

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Freundschaftsgesten unter Politikern

Darin steckt ein menschliches Urbedürfnis. Ohne körperliche Nähe-Erfahrung würden wir seelisch zugrunde gehen. Psychologen sprechen von Berührungshunger: Menschen, die sonst durchaus Abstand halten, suchen den Körperkontakt, die Berührung und das Berührtwerden durch Freunde. Fast könnte man meinen, die erkältende Distanz, die den Menschen in modernen, westlichen Gesellschaften vom Mitmenschen trennt, solle im Akt der Umarmung, Wange an Wange, Körper an Körper, für einen Moment aufgehoben werden.

Umarmung statt Handschlag

Der Essayist Karl Markus Michel beobachtete schon Ende der Neunzigerjahre die Wiederkehr der Nah-Sinne und das veränderte Körpergefühl. Er sah darin eine Umkehrung des Prozesses der Zivilisation, wie ihn der Soziologe Norbert Elias in seinem Hauptwerk von 1936 entworfen hatte: Mit dem Vorrücken der Peinlichkeitsschwelle in Europa seit dem 16. Jahrhundert, so Elias’ These, sei die Empfindung von Scham gegenüber der eigenen Leiblichkeit und Ekel gegenüber der fremden einhergegangen.

Die Folge: Menschen gingen zueinander auf Distanz und unterzogen ihre Gefühle einer strengen Affektkontrolle. Verstöße gegen das Distanzgebot wurden als Bedrohung erlebt und mit Angst belegt.

Ende des 20. Jahrhunderts hingegen, so Michel, habe die physische Nähe jeden Schrecken verloren. Im Gegenteil, die Menschen verlangten nach körperlicher Gemeinschaft mit anderen. Sie wollen sich fühlen und „mitgetragen werden in einem Wärmestrom“ – und umarmen sich deshalb lieber, als einander die Hand zu geben.

Auch deshalb, weil sich die Gefühle im Lauf der Geschichte verändern. Der Händedruck war ein Import aus Großbritannien, in Mitteleuropa setzte er sich erst im 19. Jahrhundert durch und ersetzte damit die stumme Verbeugung. Zunächst galt er als eher intime, emotionsgeladene Geste der Annäherung. Er hatte nichts Steifes, im Gegenteil: Er war ein Zeichen der Zuneigung, mit dem man wählerisch umging, zumal zwischen den Geschlechtern.

Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts avancierte das Handgeben zum alltäglichen Gruß, mit dem man sich quer durch alle Klassen der wechselseitigen Wertschätzung versicherte. In bürgerlichen Familien umarmten die älteren Kinder ihre Eltern nicht. Sie gaben ihnen die Hand, wie anderen Erwachsenen auch.

So benehmen Sie sich in Deutschland richtig

Der Hautgout des Formellen haftet dem Händedruck erst seit den Sechzigerjahren an. Damals geriet mit den bürgerlichen Umgangsformen die Autorität der Manieren en gros unter Beschuss. Die Soziologen bezeichnen die heute noch spürbaren Folgen als Prozess der Informalisierung. Oder anders formuliert: als Wandel der Umgangsformen. Verbindliche Verhaltensregeln – wie man Menschen anspricht oder begrüßt beispielsweise – sind seitdem vielen Möglichkeiten gewichen. Vom leichten Kopfnicken über das Winken aus Distanz bis zur Umarmung mit Wangenküssen.

Tyrannei der Intimität

Man kann das als Bequemlichkeitsfortschritt verbuchen: Die Menschen machen keine großen Umstände. Man gibt sich gern zwanglos, legt die Krawatte ab und duzt sich.

Der amerikanische Kultursoziologe Richard Sennett hat diese Entwicklung in seinem Buch über „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“ beschrieben. Gesellschaft und Politik würden zunehmend als psychische Phänomene wahrgenommen, die Wärme, Vertrauen und den offenen, authentischen Ausdruck von Gefühlen ermöglichen. In einer Zeit, so Sennett, in der persönliche Beziehungen darüber bestimmen, was glaubhaft sein soll, „scheinen Konventionen, Kunstgriffe und Regeln nur im Wege zu sein, sie behindern den intimen Ausdruck“.

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