Die Wahrheit hinter märchenhaften Erfolgen ist häufig alles andere als märchenhaft. Doch wir alle lieben den Mythos vom hässlichen Entlein, das über Nacht zum schönen Schwan wird, oder vom gehemmten Handyverkäufer, der von jetzt auf gleich als Tenor groß herauskommt und Millionen zu Tränen rührt wie Paul Potts. Dass Potts ein Jahrzehnt in verschiedenen Chören sang und vor seinem großen Erfolg einen ersten Talentpreis von 8000 Pfund komplett in Gesangsunterricht an italienischen Opernschulen investierte, wird dabei gern übersehen.
Wer sich unter den Supererfolgreichen genauer umsieht, erkennt schnell: Das Erfolgsrezept gibt es ebenso wenig wie das Rezept zum Goldmachen, nach dem Alchimisten in aller Welt jahrhundertelang suchten. Statt eines todsicheren Rezepts gibt es eine Reihe von Zutaten, die großen Erfolgen den Weg ebnen – oder auch nicht, wenn das nötige Quäntchen Glück fehlt.
Willenskraft – Einsatz, bis der Arzt kommt
Im Februar 2014 porträtierte das „Manager Magazin“ Topmanager und andere Prominente im Unruhestand, zum Beispiel den früheren Fresenius Medical Care-CEO Ben Lipps, der trotz seiner 73 Jahre lieber ein Berliner Start-up mit 18 Mitarbeitern leitet, als in Florida die Sonne zu genießen oder Ex-Spiegel-Chef Stefan Aust, der sich mit 67 auf das Himmelfahrtskommando einließ, „Die Welt“ als Herausgeber aus der Krise zu führen.
Man braucht also gar nicht über den großen Teich zu schauen, wo Warren Buffett auch mit 83 noch Tag für Tag ins Büro geht. Während in Deutschland gerade mal wieder über die Rente mit 63 diskutiert wird, ist für manche Menschen der Ruhestand offenbar ein Schreckgespenst. Hinter vielen außergewöhnlichen Erfolgen steckt schlicht – Arbeit, Arbeit, Arbeit.
Vor einiger Zeit hatte ich einen jungen Existenzgründer im Coaching, der mit dem Anliegen kam: „Wie kann ich mehr Erfolg haben?“ Auf die Frage, wie sein Tagesablauf aussähe, beschrieb er mir ein eher gemütliches Leben: Frühstück mit der Familie, gegen halb zehn im Büro und nach dem Rechten schauen, ein paar Dinge regeln, spätestens um 17, 18 Uhr wiedernach Hause, Zeit für Hobbys und Familie. Und wo sein Problem sei, wollte ich wissen. „Es läuft eigentlich ganz gut, aber ich hatte mir vorgestellt, dass der Laden abgeht wie eine Rakete.“ Nur braucht eine Rakete mächtig viel Treibstoff, um im Bild zu bleiben. Work-Life-Balance ist der garantierte Weg in die Mittelmäßigkeit.
Umso erstaunlicher ist es, dass durchschnittlich intelligente und gut ausgebildete Mitteleuropäer immer noch Motivationsgurus auf den Leim gehen, die ihnen vorgaukeln, mit der richtigen Programmierung ihres Unterbewusstseins werde sich ihr Erfolg quasi im Schlaf einstellen. Dazu die Gründerin eines Kosmetikimperiums Estée Lauder, die ihre ersten Cremes in der elterlichen Küche zusammenrührte: „Ich habe niemals an Erfolg geglaubt – ich habe dafür gearbeitet.“
Forderung entspricht einer Provokation
In Zeiten der Burn-out-Debatte und angesichts ständiger Hinweise auf die Zunahme stressbedingter psychischer Erkrankungen ist die Forderung nach überdurchschnittlichem Engagement fast eine Provokation. Tatsächlich ist der Grad zwischen erfüllendem Ausleben von Ambitionen und ungesundem Workaholismus schmal. Ob „Arbeit, Arbeit, Arbeit“ einen Menschen glücklich oder unglücklich macht, hängt vom persönlichen Wertekostüm ebenso ab wie vom Grad der Selbstbestimmung.
Menschen, die sich als unabhängig erleben, verkraften ein hohes Arbeitspensum besser als Menschen, die sich Zwängen ausgesetzt sehen. Dies führt paradoxerweise dazu, dass Selbstständige auch dann zufriedener mit ihrer Arbeit sind, wenn sie mehr arbeiten und weniger verdienen als Angestellte – zumindest dann, wenn sie die Selbstständigkeit freiwillig gewählt haben.
Wer Leistung und Lebensglück verbinden will, muss sich nicht selbstständig machen – Krux ist vielmehr, sein Ding zu finden, eine Tätigkeit also, die mit eigenen Talenten und Interessen harmoniert.
Nicht jeder, der sehr viel arbeitet, ist also zwangsläufig ein Workaholic. Zum Thema Arbeitssucht sind in den letzten Jahren zahlreiche Publikationen erschienen. Kleinster gemeinsamer Nenner: Gefährlich wird Arbeit dann, wenn der Betroffene sich in einen Teufelskreis von zwanghaftem Schuften befindet, wenn Arbeit körperlich krank macht, wenn Arbeit keine Befriedigung mehr bringt, sondern oft sogar von Erfolglosigkeit begleitet wird, was der echte Workaholic zu bekämpfen sucht, indem er die Dosis erhöht und noch mehr arbeitet.
Fokus – Alles auf eine Karte
Otto von Bismarck sagte einmal über das Geheimnis seiner Erfolge: „Ich jage nie zwei Hasen auf einmal.“ Wer Großes erreichen will, muss sich fokussieren. Wir alle haben nur begrenzt Talent und Zeit zur Verfügung, und Allround-Dilettanten sind weitaus häufiger als Universalgenies. Mit Fokus meine ich ein Höchstmaß an Konzentration auf eine Sache und damit das Gegenteil von Verzettelung.
Fokussierung kann zu grotesker Einseitigkeit führen, wie etwa im Klischee des zerstreuten Professors, der sein Fachgebiet genial beherrscht, aber an Alltagskleinigkeiten scheitert. Über Martin Winterkorn, den technikbesessenen VW-Chef, wird beispielsweise berichtet, er habe eine Veranstaltung im New Yorker Museum of Modern Art, wo er vor Megastars wie Madonna, Yoko Ono, Lou Reed oder Patti Smith auftrat, früh verlassen: „Er müsse jetzt noch den neuen Passat in Manhattan testfahren“, soll er gesagt haben.
Mal ehrlich: Würden Sie lieber Passat fahren, als mit Madonna zu plaudern? Das erinnert ein wenig an den exzentrischen Mathematiker Grigori Perelman, der mit der Poincaré-Vermutung eines der sieben Millennium-Probleme der Mathematik löste. Das dafür ausgelobte Preisgeld von einer Million Dollar 2010 schlug er aus, weil er nicht zur Preisverleihung in die USA reisen wollte. Stattdessen verschanzte er sich weiterhin in der St. Petersburger Wohnung seiner Mutter.
Zu schnelle Wechsel verhindern Tiefe und echte Meisterschaft. Ausnahmeerfolge setzen Konzentration und oft auch langjährige Erfahrung voraus. Der Wissenschaftsjournalist und Bestsellerautor Malcolm Gladwell rückte diesen Aspekt in seinem Buch „Überflieger“ ins Bewusstsein, in dem er der 10.000-Stunden-Regel ein ganzes Kapitel widmete. In Kürze besagt diese Regel: Wer etwa 10 .00 Stunden etwas intensiv betreibt, hat sehr gute Chancen, darin zum Ausnahmetalent zu werden, und zwar gleichgültig, ob es sich dabei um ein Musikinstrument oder das virtuose Knacken von Safes handelt.
All das deutet darauf hin, dass Talent zwar nicht völlig unwichtig ist, aber gnadenlos überschätzt wird – und manchmal auch als lahme Ausrede jener herhalten muss, die sich nicht wirklich mit Haut und Haaren einer Sache verschreiben wollen.
An der Spitze ist es einsam
Aus den beiden bisherigen Zutaten für den Senkrechtstart – Willensstärke und Fokussierung – ergibt sich die dritte schon fast zwangsläufig: Wer nach oben will, muss Opfer bringen. Luxus sind für Erfolgsmenschen oft ganz einfache Dinge: Zeit für die Familie, ein Abend mit Freunden, ein Tag offline.
Beiersdorf-CEO Stefan Heidenreich ist täglich um sechs im Büro, ab sieben hält er Besprechungen ab. Wer weiter kommen will als andere, muss offenbar auch früher aufstehen. Managementexperte Reinhard K. Sprenger hat schon vor Jahren moniert, dass viele Menschen große Ambitionen haben, aber nicht bereit sind, den Preis dafür zu bezahlen. Ich fürchte, Sprenger hat Recht. Wenn die Lust auf Verzicht fehlt, war die Motivation offenbar nicht groß genug.
Risiko – Der Spieler im Sieger
Ein rundherum abgesichertes Vollkaskoleben bietet wenige Chancen auf einen fulminanten Senkrechtstart. Ein schönes Beispiel für Risikofreudigkeit ist Titus Dittmann. Nie gehört? Dann haben Sie noch nie auf einem Skateboard gestanden. Dittmann gilt als Vater der Skateboard-Szene in Deutschland.
Das Interessante: Dittmann startete in einem Beruf, der nicht unbedingt für seine Risikofreudigkeit bekannt ist: als Lehrer. Er unterrichtete vier Jahre lang als Studienrat, bevor er Beamtendasein und sichere Pension sausen ließ. Ist Dittmann ein Zocker, der alles auf die Skateboard-Karte setzte? Nein.
Bei genauerem Hinsehen ging Dittmann Risiken sehr kontrolliert ein. Er handelte bereits sechs Jahre mit Boards und hatte schon diverse Aktivitäten gestartet, bevor er den Beamtenjob hinwarf. Er kannte sich in der Szene bestens aus. Er setzte auf kontinuierliches Wachstum. Doch ein Risiko blieb die Unternehmung. Als der Skateboard-Boom Ender der Achtzigerjahre abebbte, geriet das Unternehmen in eine erste Krise. 2002 bis 2007 folgten weitere schwere Jahre, Dittmann schlitterte knapp an einer Insolvenz vorbei und löste seine Lebensversicherungen auf, um das Unternehmen zu retten. Die Kehrseite eines Senkrechtstarts ist die mögliche Bruchlandung, das eine ist ohne das andere kaum zu denken.
Natürlich spielt in all diesen Fällen auch Glück eine Rolle – ein Faktor, auf den wir noch zu sprechen kommen. Aber ohne ihre Risikofreudigkeit hätten die beiden Herren auch kein Glück haben können. Dabei meine ich mit Risikofreudigkeit nicht Kamikazementalität. Auch wenn es Sie überraschen mag: Wer zielstrebig auf einen Erfolg zusteuern will, bringt am besten das Durchhaltevermögen und die Kaltblütigkeit eines Poker-Profis mit.
Ein erfolgreicher Pokerspieler zeichnet sich dadurch aus, dass er sich der Risiken des Spiels bewusst ist, sich nicht von kurzfristigen Misserfolgen irritieren – oder kurzfristigen Erfolgen blenden– lässt, sondern möglichst kühl die jeweilige Spielsituation analysiert und vor diesem Hintergrund akzeptable Risiken eingeht.
Mentoren – Die Paten des Erfolgs
„Keiner gewinnt allein“, das gilt nicht nur im Fußball. Wenn ein alter Hase den Neuling in die geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze der jeweiligen Branche einweiht, ist das von unschätzbarem Vorteil. Auch soziale Aufsteiger berichten häufig, dass es in ihrer Umgebung mindestens eine Person gab, die an ihre Fähigkeiten geglaubt und sie unterstützt hat – einen Lehrer, Ausbilder oder Verwandten, der ihnen den Rücken stärkte.
Die großen Karriere-Irrtümer
Viele ambitionierte Menschen verlassen sich auf logisch erscheinende Theorien, die nur auf Erfahrungen Einzelner basieren. Natürlich gibt es auch nützliches Erfahrungswissen, aber ohne psychologische Reflexion und systematische Aufbereitung bleibt es Einzelwissen.
Beim Mentoren-Prinzip fördern erfolgreiche Top-Manager ihre jüngeren, unerfahrenen Kollegen. Der Mentor will dem Mentee nach bestem Wissen und Gewissen sagen, „wo es lang geht“. Ist der Mentor gut, schrumpft das Wissensgefälle nach kurzer Zeit – und damit auch die Wichtigkeit des Mentors. Dieser wird dann oft wütend und eifersüchtig und ist versucht, die Karriere seines Schützlings zu hemmen.
Es ist eine verbreitete, aber falsche Annahme, dass Chefs offene und konstruktive Kritik benötigen, um besser zu werden. Denn diese wirkt sich oft desaströs auf die Karriere des Kritisierenden aus. Zumindest unbewusst will sich kein Chef Kritik anhören, schon gar nicht in seiner Position.
Es ist die Haltung des Gebens, die zum Erfolg und damit zur Karriere führt. Auch als unerfahrener Mitarbeiter kann man seinem Mentor etwas „geben“. Anstatt eine Beziehung zu seinem Mentor anzustreben, in der man nur selbst profitieren will, macht man seinem Vorbild Komplimente, zeigt seine Bewunderung und bittet um Rat und Hilfe.
Man muss nicht unbedingt mehr im Unternehmen arbeiten, wenn man höherwertige Positionen im Unternehmen erreicht. Top-Manager müssen vor allem die Verbindung zwischen der eigenen beruflichen und privaten Person intensivieren und als Persönlichkeit auf das Unternehmen wirken und dieses repräsentieren.
Karrieren hängen nicht von einzelnen Situationen ab, sondern entwickeln sich über einen langen Zeitraum. Bei Entscheidungen unter Zeitdruck ist es unerlässlich, innezuhalten. Je länger sie pausieren, ohne nachzudenken, umso unwahrscheinlicher ist eine Fehlentscheidung.
Talent ist zu vernachlässigen, wenn alle anderen Dimensionen für eine Karriere – wie das Streben nach höchstem Können und eine stabile Psyche – stimmen.
Die individuelle Karriere folgt keiner Normalverteilung. Für sie gibt es keine berechenbare Wahrscheinlichkeit. Die realen Einflussgrößen sind Widerstände und Krisen, die zu bestehen sind und an denen man wachsen kann.
Wer das System Karriere nicht durchschaut, hält die Erfolge seiner Karriere für Zufall. Es ist jedoch nicht Glück, sondern der autonomer Wille der Ambition – also harte Arbeit unter der Regie seiner Ziele.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat ihren Einzug ins Kanzleramt auch der Unterstützung eines Teams prominenter Frauen, darunter Verlegerin Friede Springer und Journalistin Sabine Christiansen, zu verdanken. Die machtbewussten Damen öffneten der Anwärterin die Türen zu wichtigen gesellschaftlichen Veranstaltungen und sollen am optischen Wandel von „Kohls Mädchen“ zur künftigen Kabinettschefin nicht unbeteiligt gewesen sein.
Bei Merkels Vereidigung 2005 saß das Quartett auf der Bundestagstribüne und genoss den Sieg der eigenen Kandidatin. Hinter großen Erfolgen steckt außer Ehrgeiz und Durchhaltewillen häufig auch die Bereitschaft, dazuzulernen und sich professionelle Helfer zu suchen, vom informellen Netzwerk über Medienberater bis zum Stylisten.
Professionelle Unterstützer und Mentoren haben eine wichtige Motivationsfunktion, weil sie im Idealfall ein wertschätzendes „Du schaffst es!“ mit der gemeinsamen Erarbeitung konkreter Handlungspläne und anschließender Erfolgskontrolle verbinden. Eine wirksame Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche, die in der Friede-Freude-Eierkuchenwelt der meisten Motivationsgurus konsequent ausgeblendet bleibt. Das ist kein Wunder, denn dort wird einfacher und grenzenloser Erfolg versprochen. Doch wer sich Helfer sucht, weiß, dass Erfolg nicht einfach passiert. Und er muss vor allem erst einmal die eigenen Grenzen erkannt haben.
Glück – Der unterschätzte Faktor
Die Rolle des Glücks für das Erringen von Ruhm und Ehre schält sich am deutlichsten bei jenen Glücklosen heraus, die alles mitbrachten – Willenskraft, Fokus, Opferbereitschaft und den Mut zum Risiko, sogar wohlmeinende Gönner – und trotzdem zu Lebezeiten weitgehend erfolglos blieben.
Als Vincent van Gogh sich mit 37 Jahren in die Brust schoss, hatte er in nur zehn Jahren 1000 Zeichnungen angefertigt und rund 840 Bilder gemalt – und nur ein einziges davon verkauft. Van Gogh war zeitlebens von seinem jüngeren Bruder Theo, einem Kunsthändler, finanziell abhängig. Auch Kontakte zu anderen Künstlern seiner Zeit wie Paul Gauguin beförderten sein Fortkommen nicht. Heute erzielen seine farbenfrohen Gemälde Rekordpreise.
Umgekehrt hat eine glückliche Fügung manchem Ausnahmeerfolg den Weg geebnet. Aristoteles Onassis verdankte seinen Reichtum wesentlich einem exzellenten Geschäft zu Beginn seiner Karriere, als er einem bankrotten Reeder die Schiffsflotte für einen Spottpreis abkaufte. Thomas Middelhoffs Image zehrte jahrelang vom Coup des Aktiengewinns durch den rechtzeitigen Verkauf der AOL-Aktien während seiner Bertelsmann-Zeit. Bill Gates wurde zur richtigen Zeit in die richtige Familie geboren, die ihn auf eine Schule schickte, die die ersten Computer hatte und ihn tagelang programmieren ließ.
Doch obwohl glückliche Fügungen den individuellen Erfolg begünstigen (und unglückliche ihn hemmen) können, besteht kein Anlass für Fatalismus. Wer nichts tut, kann auch kein Glück haben. Selbst für einen Lottogewinn müssen Sie sich zumindest aufraffen und einen Schein ausfüllen.
"Es genügt nicht, Chancen zu haben"
Was sich nicht erzwingen lässt und wofür es in der Regel das berüchtigte Quäntchen Zusatzglück braucht, ist der ultimative Megaerfolg. Doch gerade aus diesen Ausnahmeerfolgen leiten viele Motivationsgurus ihre „Alles ist möglich“-Botschaften ab und ignorieren damit, dass auf jeden Richard Branson zahlreiche durchschnittlich erfolgreiche Musikproduzenten und etliche völlig erfolglose kommen.
„Man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht“, heißt es schon in der Dreigroschenoper. Noch ein letzter Aspekt: Es genügt nicht, Chancen zu haben, man muss sie auch sehen. Manche Menschen verfügen einfachüber einen besseren Chancenradar als andere, sie wittern Geschäftsideen, die andere übersehen, sie erkennen wertvolle Kontaktmöglichkeiten, wo andere den ruhigen Feierabend bedroht sehen, sie fragen gewohnheitsmäßig „Ja, warum eigentlich nicht?!“, statt sich ebenso routiniert in die „Ja, aber“-Stagnation zu flüchten.
Das kann man sich übrigens auch dann noch angewöhnen, wenn man durch eine langjährige „Ja, aber“-Schule in Ausbildung und Berufsleben gegangen ist. Menschen mit Chancenradar sind ein wenig wacher, neugieriger und risikofreudiger als der Durchschnitt.
Alles hat seine Zeit – Work-Life-Tides
Ich halte nicht viel von Work-Life-Balance. Die Metapher des Balancierens evoziert eine heikle Gradwanderung mit der dauernden Gefahr, abzustürzen, und das entspricht ja durchaus der Lebenswirklichkeit vieler Menschen. Tagtäglich versuchen sie, eine Reihe von Ansprüchen unter einen Hut zu bringen. Das klappt, solange nichts schiefgeht. Da im Leben jedoch regelmäßig etwas schiefgeht, ist es aus mit der Balance, sobald ein Projekt unerwartet mehr Zeit braucht, ein Kind krank wird oder der Chef wechselt. Dann stürzt die wackelige Alltagsorganisation zusammen wie ein Kartenhaus. Vor einiger Zeit stolperte ich über einen Artikel zum Thema „Die erschöpfte Familie“.
Alle Mitglieder, ob Vater, Mutter, Teenagertochter oder kleiner Bruder, alle waren unzufrieden, alle klagten über Stress. Schließlich wolle man neben Arbeit und Schule beziehungsweise Hausaufgaben ja auch regelmäßig zum Handball beziehungsweise zum Yoga, und auch der Kirchenchor sei wichtig, und übers Smartphone bis spätabends mitzuchatten sei quasi Teenagerpflicht, und jeden Tag müsse gesund gekocht werden, und der Musikunterricht der Kinder und das Ballett und die Fahrdienste und die Verpflichtungen im Kindergarten. Ein wenig klang das nach einem Vierjährigen, der sich beim Kindergeburtstag durch das gesamte Süßigkeitenangebot gefuttert hat und sich hinterher bitter beklagt, dass ihm übel wird.
Mein Eindruck ist: Wir leben in einer Zeit, in der immer mehr Menschen alles wollen, und zwar sofort.
An die Stelle des „Alles auf einmal“ der Work-Life-Balance möchte ich ein Gezeitenmodell des stetigen Wandels setzen. Work-Life-Tides bedeutet: Unterschiedliche Lebensphasen verlangen unterschiedliche Schwerpunktsetzungen, will man nicht unter dem Druck der eigenen Ansprüche einknicken. Das setzt eine reife Persönlichkeit, eine bewusste Lebensplanung und die Zuversicht voraus, dass die Zeit für andere Vorhaben schon kommen wird. Ein prominentes Beispiel für ein derartiges Lebenskonzept ist Tennisstar Steffi Graf, die als Leistungssportlerin beeindruckende Erfolge feierte, sich dann auf die Familie konzentrierte und nach einigen Jahren als Geschäftsfrau aktiv wurde.
Für Sie kann das bedeuten, sich klar darüber zu werden, was in der jeweiligen Lebensphase im Vordergrund stehen soll und in welches Projekt Sie Ihre meiste Kraft investieren wollen. Wenn Sie beruflich nach den Sternen greifen, ein Unternehmen gründen oder 10.000 Stunden in Ihr Talent investieren wollen, ist das vermutlich nicht die beste Zeit, um gleichzeitig noch ein Haus zu bauen und sich aktiv in die Kindererziehung einzubringen.